Die allegorische Figur des Unbekannten Soldaten wurde in der Zwischenkriegszeit als Inbegriff von Hingabe und Opferbereitschaft zum Mittelpunkt des nationalen Gedächtnisses. Sie stellte eine idealisierte, kollektive und heroische Imagination des einfachen Soldaten dar, der für das Vaterland sein Leben gelassen hatte. Die Figur des Unbekannten Soldaten trug dazu bei, einen bestimmten Typus des Soldatenhelden in der Moderne zu perpetuieren, und diente gleichzeitig der Bündelung der nationalen Trauer und der retrospektiven Legitimierung der Kriegsopfer.
Der moderne politische Totenkult, unter dem auch der Kult um den Unbekannten Soldaten zu fassen ist, ist eng verknüpft mit Prozessen des politischen, sozialen und kulturellen Wandels im 19. Jahrhundert wie Nationsbildung, Militarisierung oder Demokratisierung.1 Vor allem die Mobilisierung von Männern durch die sukzessive Einführung der Wehrpflicht während des 19. Jahrhunderts führte dazu, dass gegenüber gefallenen ⟶Soldaten – die als Staatsbürger für die Nation starben – die Anerkennung der Gesellschaft ausgedrückt werden musste.2 Dies geschah durch öffentliche Erinnerung, die unter anderem durch offizielle Gedenkrituale inszeniert wurde. Der Gefallenenkult wurde so im Verlauf des 19. Jahrhunderts zu einem wichtigen Aspekt der nationalen Orientierung der Bevölkerung durch politisch aufgeladene Symbole und prägte die neuartige ⟶Heroisierung einfacher Soldaten.3 In der Deutung und rituellen Verehrung des Soldatentods als Opfer für die politische Gemeinschaft, in deren Zukunft und Erinnerung die Gefallenen weiterlebten, fand die religiöse Züge annehmende Überhöhung der Nation ihren prägnantesten Ausdruck.
Der Erste Weltkrieg stellte eine tiefgreifende Zäsur im politischen Totenkult dar.4 Die Zahl der Gefallenen lag schätzungsweise bei neun Millionen Soldaten. Die nicht mehr identifizierbaren Toten, die in Massengräbern beigesetzt werden mussten, überstiegen diejenigen, denen noch ein eigenes Grab zugewiesen werden konnte. Die Möglichkeit einer individuellen Grabstätte war entsprechend häufig nicht gegeben und Trauerrituale mussten an diese neuen Gegebenheiten angepasst werden.5 Die Trauer um die Gefallenen war eine der größten Herausforderungen, denen sich die Nachkriegsgesellschaften gegenübersahen.6 Ausdruck der symbolischen Verarbeitung dieser Herausforderungen waren Kriegerdenkmäler, Soldatenfriedhöfe, Gedenkfeiern und der Kult um die Figur des Unbekannten Soldaten.7
Von der Annahme ausgehend, dass kollektive Identität auf symbolischer Repräsentation basiert und auf die Imagination einer gemeinsamen Vergangenheit – also auf kollektive Erinnerung – angewiesen ist8, können typologisch fünf Erklärungsansätze für das Aufkommen des kulturellen Phänomens des Unbekannten Soldaten gefunden werden:
a. Die Figur des Unbekannten Soldaten bot eine Antwort auf die unzureichenden Toten- und Gedenkrituale der Vorkriegszeit. Eine individuelle Bestattung der Toten war allein aufgrund der Anzahl der Gefallen nicht umzusetzen, wodurch traditionelle Rituale wie familiäre Trauerzüge oder Totenwachen kaum mehr umzusetzen waren. Der Kult um den Unbekannten Soldaten stellte eine Möglichkeit dar, in einer Art kollektiver Trauerbewältigung mit dem individuellen Verlust umzugehen.9
b. Der Unbekannte Soldat konnte zur Bildung einer kollektiven Identität durch eine imaginierte Gemeinschaft beitragen, in der alle Überlebenden durch die gemeinsame Erfahrung der Trauer geeint wurden.10
c. Der Unbekannte Soldat führte zur Etablierung manifester Orte für die Bewältigung der Trauer, wie etwa das Beinhaus von Douaumont oder das Grabmal unter dem Arc de Triomphe in Paris. Die Unsicherheit ob der nicht zu identifizierenden Gefallenen sollte durch die kollektive Anerkennung der Taten und Leistungen der verschollenen, später auch aller Soldaten kompensiert werden. Der Gefahr des Vergessens des Individuums wurde somit entgegengewirkt und zugleich ein symbolischer Bezugspunkt für die Verarbeitung der Trauer geschaffen.11
d. Als Teil des politischen Totenkultes nach Kriegsende stand der Unbekannte Soldat nicht nur für alle Gefallenen, sondern auch für alle Kriegsteilnehmer. Er wurde folglich als integrierende politische Figur inszeniert, durch die soziale und politische Brüche überbrückt werden sollten. Häufig wurde im Namen der Gefallenen ein Appell an die Gemeinschaft im Krieg gerichtet, wie sie in den Chiffren der ‚Union sacrée‘, des ‚Geist von 1914‘ oder des ‚Spirit of the Trenches‘ auch nach dem Krieg idealisiert wurden.12
e. Die ersten vier Deutungsmöglichkeiten können auch auf andere Arten des Totengedenkens zutreffen, erreichten jedoch in der Figur des Unbekannten Soldaten eine größere Relevanz für weite Teile der Nachkriegsgesellschaften. Das Alleinstellungsmerkmal des Unbekannten Soldaten und die mit ihm einhergehende Neuerung war die individualisierte, figürliche Repräsentation der Gesamtheit der Soldaten, in der die Grenzen zwischen singulärem und kollektiven Heldentum aufgelöst wurden.
Grabmale des Unbekannten Soldaten wurden nach Ende des Ersten Weltkriegs in nahezu allen am Krieg beteiligten Staaten errichtet. Vorreiter waren Frankreich und Großbritannien, die ihr jeweiliges Grabmal des Unbekannten Soldaten am 11. November 1920 einweihten. Schnell folgten die USA, Italien und Portugal (1921), Belgien und die Tschechoslowakei (1922), Bulgarien und Rumänien (1923) sowie Polen (1925). Noch bis in die Gegenwart werden Grabmale des Unbekannten Soldaten zu Ehren der Gefallenen (nicht nur) des Ersten Weltkriegs errichtet, wie beispielsweise in Australien (1993) und Kanada (2000). An dieser Stelle beschränken wir uns auf die ersten Grabmale in Paris und London, die zweifelsohne als Vorbilder für die folgenden Gedenkstätten fungierten und noch heute einen bedeutenden Stellenwert in der nationalen Erinnerung einnehmen. Der Schwerpunkt wird auf dem französischen Unbekannten Soldaten liegen.
unter dem Triumphbogen in Paris
Foto: Isabell Oberle, 2018
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Die Idee des Unbekannten Soldaten geht zurück auf eine Rede François Simons Ende des Jahres 1916. Der Präsident der Vereinigung Souvenir français schlug vor, die Gebeine eines nicht zu identifizierenden Soldaten zu exhumieren und im Pantheon beizusetzen; dieser sollte als Stellvertreter der kämpfenden Männer anerkannt werden. Den Gedanken griff der spätere Innenminister Maurice Manoury auf und reichte am 19. November 1918, gemeinsam mit Paul Morel und Georges Leredu, bei der Abgeordnetenkammer einen Antrag ein, der darauf abzielte, im Pantheon ein Denkmal zu Ehren der französischen Soldaten zu errichten. In der Folge wurde in der Abgeordnetenkammer stetig über die Identität dieses Unbekannten sowie über seine Grabstätte gestritten, ohne dass die Auseinandersetzungen eine Lösung herbeiführen konnten. Erst die Nachricht, ein anderer Unbekannter Soldat sollte exhumiert und in Westminster Abbey bestattet werden, führte zur Beschleunigung und letztlich zum Abschluss der Debatte; die Briten sollten ihnen in der Einrichtung der Gedenkstätte nicht zuvorkommen. Die nationale Presse, angeführt durch L’Intransigeant, L’Action française und Le Journal, startete eine Kampagne für die Beisetzung eines Unbekannten Soldaten unter dem Triumphbogen, setzte die Regierung unter Druck, die wiederum am 8. November 1920 zu einem Kompromiss gelangte und die Forderungen erfüllte.
Die Exhumierung fand nur zwei Tage später statt. Auguste Thin, ein junger Infanterist, der sich im Januar 1918 freiwillig verpflichtet hatte und im 132. Infanterie-Regiment Verdun-Reims kämpfte, bestimmte – in Anwesenheit von Veteranen, Kriegsversehrten, Witwen und Waisen – in der Kasematte der Festung von Verdun den Unbekannten Soldaten. Dessen Sarg, mit Blumen geschmückt und dem Kreuz der Ehrenlegion, dem Siegeskreuz und der Militärmedaille ausgezeichnet (vgl. ⟶Orden und Ehrenzeichen), wurde in der Nacht nach Paris überführt, wo einen Tag später, am 11. November, die Doppelzeremonie stattfinden sollte, um sowohl den Waffenstillstand und den Sieg als auch das 50-jährige Jubiläum der Dritten Republik zu feiern: Zu den Klängen des Marche héroïque, des Chant du départ und der Marseillaise wurde der Unbekannte Soldat von einem Zug aus Kavalleristen des Krieges von 1870, Soldaten und Veteranen sowie Mädchen aus Elsass-Lothringen erst zum Pantheon und im Anschluss gemeinsam mit Léon Gambettas Herz zum Triumphbogen geleitet. Poincaré, Joffre, Foch und Pétain hatten den Unbekannten Soldaten am Pantheon erwartet, am Triumphbogen stießen ranghohe Vertreter der Regierung hinzu. Insgesamt hatte die Zeremonie im Vergleich zum sehr ähnlichen, gleichwohl religiös geprägten Festakt in England weitgehend militärischen Charakter.13 Der Unbekannte Soldat musste im Zuge der kurzfristigen Durchführung in einer provisorischen Trauerkapelle im Triumphbogen aufgebahrt werden, bis er am 28. Januar 1921 unter einer Platte beigesetzt werden konnte.14
Auf Initiative von Veteranenverbänden, die ein allmähliches Vergessen der Gefallenen in der Gesellschaft beklagten, wurde am 11. November 1923 erstmals die Flamme der Erinnerung („Flamme du Souvenir“) entzündet. Als sichtbares Zeichen dafür, dass der Unbekannte Soldat nie aus dem kollektiven Gedächtnis verschwinden dürfe, sollte die Flamme nie erlöschen. Nicht zuletzt diese Anstrengungen der Veteranenverbände, die in dem Unbekannten Soldaten auch sich selbst als ehemalige Kriegsteilnehmer erblickten, trugen dazu bei, dass der Unbekannte Soldat nicht mehr nur die verschollenen, sondern auch die gefallenen und schließlich alle Soldaten repräsentierte. Die Zeremonie des Wiederanzündens der Flamme („Ravivage de la Flamme“) findet noch bis heute allabendlich nach den damaligen Vorschriften statt. In diesem Sinne nimmt der Kult um den Unbekannten Soldaten noch 100 Jahre nach Kriegsende einen hohen Stellenwert in der nationalen Erinnerungspraxis Frankreichs ein, wenn auch eine allmähliche Desakralisierung des Grabmals zu beobachten ist: Das Gros der Besucher bilden Reisende, die den Ort als eine touristische Sehenswürdigkeit in Paris besuchen, für die die Huldigung des erbrachten Opfers keine Rolle mehr spielt.15
In seiner Typologie des ⟶Heldengedenkens unterscheidet Bernhard Giesen drei Modi des Erinnerns, die er „rituals of remembrance“ nennt: place, Orte der Biographie des Helden wie sein Grab, face, seine bildliche Darstellung etwa in Denkmälern, und voice, die Erzählungen über ihn.16 Doch während Giesen davon ausgeht, dass sich jeweils nur eines dieser Rituale einem Erinnerungsobjekt zuordnen lässt, werden hier alle drei Modi auf den Unbekannten Soldaten angewandt.
Wie bereits ausgeführt, wurden in der Abgeordnetenkammer über den Ort der Gedenkstätte scharfe Diskussionen geführt, die letztlich in der Frage mündeten, was der Unbekannte Soldat versinnbildlichen sollte. Die Alternativen Triumphbogen und Pantheon lassen sich übersetzen in die Prinzipien von Militärgeist, Kriegertum und Waffendienst auf der einen Seite und Nation, Republik und Staatsbürgerschaft auf der anderen. Unter dem Triumphbogen würde, so befürchtete man, nur der Armee gehuldigt, was die eigentlich überwundene Spaltung in Militär- und Zivilgesellschaft wachrufen würde; das Pantheon dagegen könne für die gesamte ‚Nation in Waffen‘ stehen.17 Mit der Entscheidung für den Triumphbogen wurde der Unbekannte Soldat in die Reihe der nationalen (Kriegs-)Helden aufgenommen, nicht in die Reihe der ⟶‚großen Männer‘, wie sie im Pantheon vertreten sind. Er sei eben kein ‚großer Mann‘, sondern Symbol der unzähligen Soldaten, die ihr Leben für das Vaterland gegeben hatten.18 Der Heldenbegriff wurde demokratisiert. In England hingegen lässt sich eine gegenläufige Bewegung erkennen, denn mit der Beisetzung des ‚Unknown Warrior‘ in der Westminster Abbey wurde der Unbekannte Soldat in den Stand der ‚großen Männer‘ erhoben. Ein weiteres Argument, das gegen das Pantheon vorgebracht wurde, betraf die fehlende einheits- und gemeinschaftsstiftende Funktion dieses Ortes. Im Zuge der postrevolutionären politischen und religiösen Auseinandersetzungen um das Pantheon sei dieses in den Augen vieler ein „Ort des Bruchs“ geworden, der keinen Konsens in der Gesellschaft hervorbringen könne.19 Außerdem sei es durch die Bestattung Zolas, der durch seine Verwicklung in die Dreyfus-Affäre vor allem von konservativer Seite als Landesverräter verurteilt wurde, entnationalisiert worden und könne nun nicht mehr als nationaler Erinnerungsort dienen.20
Auch für die Inschrift standen verschiedene Formulierungen zur Auwahl. Der erste Vorschlag von Manoury, Morel und Leredu, der auf die einfachen Soldaten abzielte („Au Poilu, la Patrie reconnaissante“), erschien den meisten Abgeordneten als zu ausschließlich und sie forderten eine Formulierung, die Kämpfer aller Waffengattungen und aller militärischer Ränge miteinschließen sollte. Mit diesem Ziel wollte der Abgeordnete Alexandre Lefas den Begriff des ‚poilu‘ durch denjenigen des ‚héros‘ ersetzen.21 Die finale Inschrift der Grabplatte lautet: „Ici / repose / un soldat / français / mort / pour la patrie // 1914–1918“. Auf den Begriff des ‚Helden‘ wurde letztlich verzichtet, doch schlägt die Formulierung „pour la patrie“ einen patriotischen, heroischen Ton an.22 Die evozierte Heldentat besteht im Gefallensein für das Vaterland, worin sich sogleich die semantische Nähe zum Opfer manifestiert. Ferner wurde in der Verwendung des unbestimmten Artikels ‚un‘ ein Individuum adressiert, wohingegen ein generisches ‚le‘ auf ein Abstraktum bzw. einen Typus verwiesen hätte.23 Der Unbekannte Soldat als Stellvertreter wurde also individualisiert, nicht aber personalisiert. Gemeinsam mit der gewahrten Namenlosigkeit erlaubte die Individualisierung die Würdigung jedes Einzelnen. Gegenüber der schlichten Gestaltung und des spärlichen Textes fiel die Inschrift des englischen Grabmals deutlich ausführlicher aus: „Beneath this stone rests the body / of a British warrior / unknown by name or rank / brought from France to lie among / the most illustrious of the land“. Ähnlich wie im französischen Fall wurde auch hier der unbestimmte Artikel gewählt, doch fehlt die patriotische Reminiszenz und damit auch das Opfer für das Vaterland, der Soldatenbegriff wurde – aufgrund des Ansehens der Marine – durch den allgemeineren Begriff des ‚warriors‘ ersetzt und die Bedeutungslosigkeit von Name und militärischem Rang explizit erwähnt.
Bereits kurz nach seiner Beisetzung unter dem Triumphbogen löste der Unbekannte Soldat in Frankreich ein enormes literarisches und künstlerisches Echo aus, das bis in die Gegenwart anhält.24 Die literarischen Zeugnisse gehen in unterschiedlichem Maße über den manifesten Ort des Grabmals unter dem Triumphbogen hinaus und partizipieren aktiv am Narrativ des Unbekannten Soldaten. Um diese Formen der „voice of the hero“ differenzierter beschreiben zu können, wird auf Astrids Erlls Konzept der Literatur als Gedächtnismedium zurückgegriffen.
In ihrer Studie Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen bestimmt Astrid Erll die Literatur als ein spezifisches Medium des kollektiven Gedächtnisses. Sie unterscheidet dabei fünf Modi der ‚Rhetorik des kollektiven Gedächtnisses‘ (erfahrungshaft, monumental, historisierend, antagonistisch, reflexiv), die der Affirmation, der Revision und/oder der Reflexion der dominanten Erinnerungserzählung dienen können. Im Folgenden sollen zwei Beispiele vorgestellt werden, die zum einen den erfahrungshaft-monumentalen, zum anderen den reflexiven Modus bedienen.25
Faksimile einer Postkarte, auf der das Gedicht verbreitet wurde.
Quelle: publiziert in Jagielski, Jean-François: Le Soldat inconnu. Invention et postérité d’un symbole. Paris 2005: Imago, 142.
Lizenz: Gemeinfrei
Text: AU SOLDAT INCONNU // Passant recueille-toi et contemple en silence / Ce tombeau renfermant un enfant de la France, / Héroïque martyr mort en nous défendant ; / Drapeaux inclinez-vous, tambours battez aux champs. // Qu’il soit simple soldat, gradé ou gentilhomme, / Qu’importe à nous son nom, c’est poilu qu’il se nomme ; / Il les incarne tous dans son anonymat / Et ce n’est pas un seul, mais tous qui dorment là. // A. MOREL.
Das Gedicht Au Soldat Inconnu (o. J.) von Auguste Morel erschien auf einer Postkarte und fand so schnell Verbreitung in der französischen Gesellschaft. Während der Titel des zweistrophigen, paargereimten und aus Alexandrinern bestehenden Gedichts eine Widmung an den Unbekannten Soldaten darstellt, richtet sich der erste Vers an einen vorbeilaufenden Passanten, der aufgefordert wird, innezuhalten und dem Begrabenen, dem Unbekannten Soldaten also, zu gedenken. In dieser ersten Strophe imaginiert sich das lyrische Ich als Teil einer Verehrergemeinschaft („nous“, V. 3) und schildert eine erfahrungshafte, alltagsweltliche Situation. Der Unbekannte Soldat selbst wird zum Teil der monumentalen Darstellung gemacht, indem die Erinnerung an dieses ‚Kind Frankreichs‘ (V. 2) und diesen ‚heroischen Märtyrer‘ (V. 3) als Pflicht artikuliert wird. Wie auf der Inschrift der Grabplatte wird der Sinn des Todes in der Verteidigung des Vaterlands erkannt (V. 3). Weiterhin wird – und auch hier folgt der Gedichttext dem Grabmal – auf die Bedeutungslosigkeit des Namens und des militärischen Ranges hingewiesen (V. 5f.); allererst die Anonymität des Unbekannten Soldaten ermögliche die Verkörperung nicht nur der Verschollenen, sondern aller Gefallenen in seiner Gestalt (V. 7).
Quelle: Paul Raynal: Le Tombeau sous l’Arc de Triomphe. Tragédie en trois actes. 26. Aufl. Paris 1928: Stock.
Lizenz: Zitat eines urheberrechtlich geschützten Werks (§ 51 UrhG)
In Paul Raynals Drama Le Tombeau sous l’Arc de Triomphe (UA 1924 an der Comédie Française), einem der erfolgreichsten und wirkmächtigsten Weltkriegs- und Heimkehrerdramen Europas der Zwischenkriegszeit26, tritt der Unbekannte Soldat als Protagonist auf.27 Schon das im Titel erwähnte Grab verweist metonymisch auf ihn, die Widmung richtet sich explizit an die Gefallenen des Krieges. Das patriotisch inspirierte Stück ist eine Tragödie in drei Akten, in der die Einheit von Ort, Zeit und Handlung streng gewahrt bleibt. Es inszeniert die auf wenige Stunden begrenzte Heimkehr eines Frontsoldaten nach seinem 14-monatigen Kriegseinsatz, die er sich mit der Zusage, an einem Himmelfahrtskommando teilzunehmen, erkauft hatte. Im Zentrum stehen zum einen die durch die Ereignisse des Krieges provozierte Entfremdung des Soldaten von seiner Verlobten und seinem Vater, zum anderen die Auslotung traditioneller und moderner Vorstellungen von Krieg und Heldentum. Heroisiert wird die Todesbereitschaft für das Vaterland, glorifiziert die Männergemeinschaft im Schützengraben. Den Opfertod nimmt der heimkehrende Soldat bereitwillig in Kauf, da dieser, so der Soldat, die Wiedererstehung Frankreichs auf dem Grab der Gefallenen ermöglichen werde. Noch zu Beginn trägt die er individuelle Züge, doch verwandelt er sich im Laufe des Stücks in den Repräsentanten seiner toten Kameraden, sodann in das Symbol aller gefallenen französischen Soldaten. In dieser Hinsicht lässt sich das Drama dem erfahrungshaft-monumentalen Erinnerungsmodus zuordnen. Darüber hinaus aber bietet das Stück eine explizite wie implizite „erinnerungskulturelle[] Selbstbeobachtung“28: Ein konventionelles Heldengedenken in Form von Paraden, Reden und Trauerfeiern wird als unpersönlich und herzlos abgelehnt, was sich als eine kritische Reflexion auf die gängige Praxis der Erinnerungskultur des Unbekannten Soldaten interpretieren lässt. Gefordert wird vielmehr eine Erinnerung, die eine echte Affizierung bewirkt und sich dafür der Imagination wie der Fiktion bedient. Damit plädiert der Text stark für den Einsatz der Literatur als Erinnerungsmedium im nationalen Gedächtnisdiskurs.
Dass literarisch-künstlerische Quellen durchaus Anteil an der Gestaltung der Erinnerungskultur haben, zeigt sich in diesem Fall insbesondere an der Erweiterung des symbolischen Gehalts des Unbekannten Soldaten, die dem Engagement der Dichter geschuldet war.29
Der Unbekannte Soldat war dem Ursprung nach eine Ersatzfigur für alle verschollenen Soldaten, die nicht einzeln bestattet und von ihren Familien betrauert werden konnten. Nicht nur in Frankreich verwandelte er sich sehr bald in das Symbol aller Gefallenen des Großen Kriegs. Die beachtliche Aufmerksamkeit, die dieser Figur während der Zwischenkriegszeit durch die umfangreichen, teilweise täglichen Kulte insbesondere durch Veteranen gewidmet wurde, sowie deren Inszenierung an prominenten, leicht zugänglichen Orten wie dem Arc de Triomphe in Paris, der Westminster Abbey in London oder im Alexandergarten am Kreml, schließlich auch die Unbestimmtheit seiner Identität bereiteten der Ausdehnung der ursprünglichen Bedeutung den Weg. All dies trug dazu bei, dass der Unbekannte Soldat vom Repräsentanten der verschollenen bzw. der gefallenen Soldaten schlussendlich zum Repräsentanten aller kämpfenden Männer wurde.
Abb. 1 & Teaser: Tombe du Soldat inconnu, Paris, unter dem Triumphbogen.
Foto: Isabell Oberle, 2018
Lizenz: Creative Commons BY-ND 4.0
Abb. 2: Auguste Morel: Au Soldat Inconnu (o. J.), Faksimile einer Postkarte, auf der das Gedicht verbreitet wurde.
Quelle: publiziert in Jagielski, Jean-François: Le Soldat inconnu. Invention et postérité d’un symbole. Paris 2005: Imago, 142.
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Abb. 3: Frontispiz zu Paul Raynals Le Tombeau sous l’Arc de Triomphe.
Quelle: Paul Raynal: Le Tombeau sous l’Arc de Triomphe. Tragédie en trois actes. 26. Aufl. Paris 1928: Stock.
Lizenz: Zitat eines urheberrechtlich geschützten Werks (§ 51 UrhG)
Isabell Oberle / Stefan Schubert: „Unbekannter Soldat“. In: Compendium heroicum. Hg. von Ronald G. Asch, Achim Aurnhammer, Georg Feitscher und Anna Schreurs-Morét, publiziert vom Sonderforschungsbereich 948 „Helden – Heroisierungen – Heroismen“ der Universität Freiburg, Freiburg 06.08.2018. DOI: 10.6094/heroicum/unbekannter-soldat