Unter den ‚homerischen Helden‘ versteht man in erster Linie die Figuren der Homer zugeschriebenen Epen Ilias und Odyssee (2. Hälfte 8. Jh. v. Chr., Autorschaft und Datierung sind umstritten). Die bekanntesten Beispiele sind die jeweiligen Protagonisten Achilleus (Ilias) und Odysseus (Odyssee). In zweiter Linie – die hier jedoch nicht ausführlich thematisiert wird – können als homerische Helden auch ⟶Helden in der Tradition und Rezeptionsgeschichte der homerischen Epen bezeichnet werden, sei es, dass z. B. Odysseus in einem späteren Werk selbst auftritt oder dass einer anderen Figur seine Züge verliehen werden. Als die frühesten Werke der europäischen Literatur und als kanonischer kultureller Bezugspunkt in der Antike (und mit Abstrichen bis heute) definierten die homerischen Epen maßgeblich europäische Vorstellungen von Heldentum. Die homerischen Helden werden nicht nur „Helden“ (ἥρωες) genannt, ihre Autorität als große Figuren des Mythos und der Vorzeit sowie ihre Einbettung in das später als Heldenlied und Heldenepos bezeichnete epische Genre machten sie durchweg zu Mustern von ⟶Heroisierungen und ⟶Heroismen. (Tilg)1
Die selbst für Spezialisten unüberschaubare Homerforschung enthält viel Zerstreutes zu den homerischen Helden. In den spezifisch dem Thema Heldentum gewidmeten Studien zeichnen sich jedoch einige Schwerpunkte ab. Eine grundsätzliche Diskussion wird seit Rohde 1894 über die Beziehung der homerischen Helden zum griechischen Heroenkult geführt.2 Bei Homer werden vornehmlich Krieger, aber auch andere Personen wie der Sänger Demodokos (Odyssee 8,483) oder der Diener Moulios (Odyssee u18,423), ein früherer Herold, ἥρως genannt. Der Begriff heißt so viel wie „Krieger“ oder „edler Mann“ – eine religiöse Bedeutung oder Hinweise auf Heroenkulte finden sich zumindest vordergründig nicht. Ausgehend von diesem Befund argumentieren Rohde und andere (jüngst z. B. Bremmer 2006), dass der ursprüngliche griechische Heroenbegriff der literarisch-homerische sei, während sich die Heroenkulte erst später ausgebildet hätten.3 Heute allgemeiner akzeptiert ist ein u. a. von Bravo 2009 oder Jones 2011 vertretenes Nebeneinander der beiden Stränge, die sich bald nach Homer auch verflechten konnten.4 Für Spuren einer Rezeption von Heroenkulten schon bei den homerischen Helden argumentiert u. a. Nagy 1999.5
Die Frage, was einen homerischen Helden ausmacht, wie also das homerische ‚Heldenkonzept‘ zu charakterisieren ist, durchzieht die ganze Homerforschung des 20. und 21. Jahrhunderts und hat jüngst bei Horn 2014 zum Versuch einer größeren Systematisierung geführt.6 Im Anschluss an bisherige Arbeiten charakterisiert er die homerischen Helden als Teil einer ganzen Heldengesellschaft bzw. eines Heldenzeitalters, dessen individuelle Mitglieder sich durch ihr Streben nach Ehre (τιμή) und (Nach-)Ruhm (κλέος) hervortun. Aus dieser gemeinsamen Grundstruktur lassen sich dann auf den ersten Blick unterschiedliche Helden wie der Kriegsheld Achilleus und der Verstandesheld Odysseus herleiten. Eine Reihe von Beiträgen beleuchtet die homerischen Helden als überhöhtes Spiegelbild des Publikums der homerischen Epen, das sich in den homerischen Helden seiner selbst vergewissern möchte. Als Identifikationsfiguren dienen die homerischen Helden hier je nach Kontext als positives oder negatives Exempel. So interpretiert Effe 1988 den Achilleus der Ilias nicht primär als Kriegerhelden, sondern als moralische Figur zwischen gekränkter individueller Ehre und gesellschaftlicher Verantwortung, woraus das Publikum dann für sein eigenes Denken und Handeln etwas lernen sollte.7 In eine ähnliche Kerbe schlagen z. B. Howie 1995 und Danek 2010.8 Letzterer liest die Ilias v. a. wegen der Fehlentscheidungen von Agamemnon als „Paradebeispiel für missglücktes Krisenmanagement“, das Konsequenzen für die eigene Person aber auch für die ganze Gemeinschaft hat.9 In einem allgemeineren Sinn dienen die homerischen Helden als Identifikationsfiguren, wenn ihre Menschlichkeit und ihr human interest betont wird. Trotz aller Überhöhung durchleben sie grundlegende menschliche Erfahrungen (Althoff 2010), die Rezipienten aller Zeiten berührten.10
Schein 1984 geht z. B. so weit, den in der Ilias dargestellten Krieg nur als Hintergrund für Homers Darstellung existenzieller menschlicher Tragödien, Beschränkungen und Nöte zu interpretieren. Das Epos werde so zu einer „comprehensive exploration and expression of the beauty, the rewards, and the price of human heroism“.11 Auf beide homerischen Epen ausgedehnt findet sich dieser Ansatz bei Clarke 2004: Während die Ilias Heldentum problematisiere, bewege sich die Odyssee jenseits des traditionellen heroischen Kriegerethos und zeige einen Helden, der sich seinen niedrigen Umständen anpasst und nur deshalb zum Erfolg kommt. So hätten beide Epen, jedes auf seine Weise, „a deeper and more universal level, on which the miseries and exaltations of heroic experience become a device for exploring the universal realities of man’s struggle for self-validation under the immortal and carefree gods“.12 Diese weit verbreitete humanistische Lesart der homerischen Helden wird von gelegentlichen poststrukturalistischen Dekonstruktionen in Frage gestellt, wie sie z. B. Buchan 2004 für die Odyssee vornimmt. Hier wird das stets unerfüllte Begehren (eine von der Psychoanalyse Lacans inspirierte Kategorie), der Zweifel und die Zerstörung betont, die von den homerischen Helden ausgehen.13 Das Phänomen der Selbstheroisierung der homerischen Helden im Medium ihrer Figurenrede fand seit den 1980er-Jahren verstärktes Interesse. Segal 1983 und Martin 1989 haben auf Ähnlichkeiten zwischen den homerischen Helden und ihrem Produzenten, dem epischen Dichter und Wortkünstler, aufmerksam gemacht. Segal argumentiert, dass Odysseus durch ständige Bezugnahme auf seine Taten in der Vergangenheit (u. a. durch seine langen autobiographischen Erzählungen am Hof der Phäaken in Odyssee 9–13) den für den epischen Helden typischen (Nach-)Ruhm (κλέος) gleichsam in der Rolle des epischen Sängers selbst erschafft.14 Martin sieht die homerischen Helden der Ilias als ‚Redner‘ in einer Gesellschaft, in der sich individuelle Exzellenz ganz wesentlich auch durch geschliffene und überzeugende Rede definierte.15 Die homerischen Helden, und allen voran Achilleus, begründen ihr Heldentum also auch dadurch, dass sie mit Worten kämpfen. (Tilg)
Ein wesentlicher Unterschied der homerischen Helden zu vielen späteren Heldenkonzeptionen besteht darin, dass sie Teil einer ganzen Gesellschaft bzw. eines ganzen Zeitalters von Helden sind. Die Akteure der Ilias und der Odyssee sind fast ausnahmslos Helden, was sich sowohl in der Distribution des Wortes ἥρως (das unterschiedslos für ‚große‘ und ‚kleine‘ Krieger, Freund und Feind gebraucht wird) als auch in dem gemeinsamen Wertecodex von Ehre und Ruhm niederschlägt. In der patriarchalen, vom Kriegeradel geprägten Welt der homerischen Helden ist es allerdings selbstverständlich, dass damit edle Männer gemeint sind – Frauen kommen nur in Nebenrollen vor, werden nicht „Helden“ (ἥρωες) genannt und streben auch nicht in derselben Weise nach Ruhm und Ehre; dasselbe trifft mit wenigen Ausnahmen auf sozial niedrige Figuren zu – wenn, wie oben erwähnt, der Diener Moulios in der Odyssee doch einmal „Held“ genannt wird, so ist das vermutlich auf seine frühere Funktion als Herold im Krieg zurückzuführen. Individuelle Leistung zeigt sich zwar insofern, als verschiedene Figuren – allen voran Achilleus und Odysseus – das den homerischen Helden zugrundeliegende Heldenkonzept verschieden gut verwirklichen. Individuelles Heldentum in dem Sinn, dass ein einzelner Held einer Gesellschaft von Nicht-Helden gegenübersteht, ist den homerischen Helden in ihrer Welt aber fremd.
Anders sieht es aus, wenn man die homerischen Helden aus der Sicht des Erzählers und seines Publikums betrachtet. Der Erzähler der homerischen Epen macht wiederholt klar, dass er einer späteren, im Vergleich mit den homerischen Helden schwächeren Generation angehört (z. B. Ilias 12,383). Er schaut auf eine nicht näher definierte Vorzeit zurück, in der Heldentum im Gegensatz zur dekadenten Gegenwart normal war. Aus dieser Perspektive heben sich die homerischen Helden sehr wohl von einer unheroischen Gesellschaft ab und können entsprechend leichter als außerordentliche Figuren verstanden werden. Sie zeichnen sich durch eine Steigerung alles Menschenmöglichen z. B. an Kraft, Schönheit, Zorn, Klugheit, Vornehmheit und Redekunst aus. Gleichzeitig können die homerischen Helden die den Menschen grundsätzlich gegebenen Schranken aber nicht überwinden. Ihre Fähigkeiten sind gegenüber gewöhnlichen (späteren) Menschen zwar gesteigert, aber nicht übernatürlich – in diesem Zusammenhang spricht man gern vom homerischen „Realismus“. Vor allem aber sind sie sterblich. Viele homerische Helden können direkt oder indirekt einen göttlichen Stammbaum vorweisen. Gelegentlich greifen die Götter auch für oder gegen einen der Helden ins Geschehen ein. Dennoch besitzen die homerischen Helden selbst keinen göttlichen Status und haben mit existenziellen Problemen wie Tod, Verbitterung und Heimatsuche zu kämpfen.
Ehre (τιμή) und (Nach-)Ruhm (κλέος) sind die zentralen Werte der homerischen Helden, die sie grundsätzlich mit ihrer Gesellschaft teilen. Die individuelle Verwirklichung dieser Werte kann sie aber auch in Konflikt mit der Gesellschaft bringen, wie wenn Achilleus aus gekränkter Ehre heraus den Erfolg des ganzen griechischen Feldzugs gegen Troja aufs Spiel setzt. Der Held der Ilias verwirklicht die heroischen Werte typischerweise im Krieg. Achilleus zeichnet sich durch seine „Fähigkeit zu Gewalt“ (βίη) aus. Er ist der stärkste Kämpfer der Griechen, ohne dessen Mitwirkung am Krieg das übrige Heer nichts ausrichten kann. Krieg und ⟶Gewalt bilden seit der Ilias die wohl langlebigste und erfolgreichste Konstante europäischer Heldenvorstellungen; ausgiebige Schlachtschilderungen und Zweikämpfe sind in das epische Standardrepertoire eingegangen. Noch im 20. Jh. wurden Achilleus und andere homerische Helden als Kriegshelden rezipiert, wie Vandiver 2010 am Beispiel britischer Dichtung im 1. Weltkrieg gezeigt hat.16 Trotzdem beweist schon die Odyssee, dass homerische Helden nicht auf Krieg und Gewalt festgelegt sind. Odysseus ist der Held, der Ehre und Ruhm durch seinen Verstand, seine Duldsamkeit und seine Anpassungsfähigkeit erwirbt. Man könnte ihn als den ersten „neuen“ und den ersten „modernen“ Helden der europäischen Literatur bezeichnen – es ist kein Zufall, dass die Odyssee und nicht die Ilias den Subtext zu James Joyces Ulysses bildet. Das Epos (Heldenpos) war das wichtigste Medium, in dem der Nachruhm der homerischen Helden verbreitet wurde. Ohne den vermittelnden Dichter wäre das ganze heldische Bemühen umsonst – ein Bewusstsein davon lassen die homerischen Helden gelegentlich erkennen, wenn sie selbst von ihrem Nachruhm sprechen oder wenn die Sänger Phemios und Demodokos (der selbst ἥρως genannt wird) in der Odyssee auftreten und von den Abenteuern der homerischen Helden berichten. Zur narrativen Konstruktion der homerischen Helden wenden Ilias und Odyssee ein ganzes Arsenal von Techniken an, die die Homerforschung analysiert, systematisiert und mit Fachbegriffen benannt hat, z. B. „epitheta ornantia“ (z. B. „der fußschnelle Achilleus“), „typische Szenen“ (z. B. Rüstungsszenen), „epische Gleichnisse“ und „Kataloge“. Sie wurden für die weitere epische Tradition stilbildend und prägen episches Sprechen im weitesten Sinn bis heute. (Tilg)
Dank der massiven Homerforschung seit dem 19. Jahrhundert sind die wesentlichen Fragen der homerischen Helden geklärt. Verzwickte Probleme wie das Verhältnis von homerischen Helden und Heroenkult würden sich wohl nur auf Basis neuen Quellenmaterials lösen lassen. Eine schier unendliche Fülle von Möglichkeiten zum Studium von homerischen Helden bietet sich allerdings in ihrer Rezeptionsgeschichte. Hier könnte man an Einzelfiguren für bestimmte Zeiten und Kontexte charakteristische Funktionalisierungen und Konjunkturen (wie Odysseus als Figur von Sinnsuche und Orientierungslosigkeit im 20. Jh.) sowie Wandlungs- und Hybridisierungsprozesse untersuchen (wie Odysseus in Verbindung mit Herakles als Vorbild einer Heroisierung von Jesus bei Zilling 2011).17 Auf einer systemischen Ebene könnte es sich lohnen, darauf zu achten, inwiefern spätere Epen von der Antike bis in die Neuzeit die ‚Heldengesellschaft‘ und die Wertewelt der homerischen Helden übernehmen, verändern, konterkarieren u. Ä. Schließlich gibt es trotz der relativ guten Erforschung homerischer Erzähltechniken in jüngster Zeit immer wieder neue interessante Ansätze von narratologischer Seite, so z. B. De Jong 1987 mit der Einführung einer „sekundären Fokalisierung“ durch die Figuren der Ilias, dank der homerischen Helden z. T. individueller charakterisiert werden können18; oder Grethlein 2012 mit dem Hinweis auf das „epic plupast“, die Heldenzeit vor der Generation der homerischen Helden, an die sich diese erinnern, an der sie sich orientieren und der sie exemplarische Qualitäten zuschreiben.19 (Tilg)
In der visuellen Kultur der griechischen und römischen Antike waren homerische Helden, d. h. die Akteure der Ilias und Odyssee, zwischen dem 7. Jh. v. Chr. und dem 5. Jh. n. Chr. omnipräsent. Ihre Taten erscheinen in unterschiedlichen Bildmedien. Man findet sie auch in Narrativen, die den beiden Epen mythenchronologisch vorausgehen oder folgen, wie den Erzählungen des sogenannten Epischen Zyklus um den ‚trojanischen Krieg‘ (Kypria; Aithiopis; ‚Kleine Ilias‘; Iliupersis/Eroberung Trojas), aber auch als handlungslos-statische Einzelfiguren. Dabei lassen sich Konjunkturen und Transformationen des Interesses an ihnen und der heroischen Qualitäten erkennen, die ihnen zugeschrieben wurden. (vdH)
Die Studien zu antiken Bildern homerischer Helden sind kaum überschaubar; das Material ist erfasst in den Figurenlemmata des Lexicon Iconographicum Mythologiae Classicae.20 Einzeluntersuchungen liegen beispielsweise vor zu Achilleus21, Odysseus22, Aias23 und Aineias24, aber auch zu Bildern nach der Odyssee, der Ilias und anderen trojanischen Epen25. Die Rezeptionsgeschichte homerischer Helden im Bild behandeln nur wenige Überblicksstudien.26 Am ausführlichsten wird in der Forschung das Verhältnis zwischen Text und Bild besprochen.27 Diskutiert wird dabei vor allem, wann in der frühgriechischen Kunst des 8. und 7. Jhs. v. Chr. Darstellungen homerischer Helden erstmals auftauchen und wie sich die ersten mythologischen Bilder zu den homerischen Epen verhalten.28 In der Nachfolge von Bernhard Schweitzer und Roland Hampe29 sah man in einzelnen Bildern der spätgeometrischen Epoche (750–700 v. Chr.) homerische Helden dargestellt, so beispielsweise Odysseus’ Schiffbruch im Halsbild einer attischen Tonkanne in München (Staatliche Antikensammlungen Inv. 8696, Abb. 1). Dabei spielte die Deutung einzelner Darstellungen von ‚Zwillingswesen‘ eine Rolle, in denen man die bei Homer auftretenden Söhne des Aktor erkennen wollte (Ilias 11, 750-52; 23, 638-42). Doch kann es sich auch um eine anders zu verstehende Darstellungskonvention handeln30, denn die zeitgleiche Bilderwelt dominierten insgesamt generische Darstellungen von Land- und Schiffskämpfen, Totenfeiern usw. vor allem auf großen Grabgefäßen.31 Der insgesamt wenig distinktive Charakter der geometrischen Figuren und Szenen führte jedoch auch zu dem Schluss, in sämtlichen Handlungsbildern des 8. Jhs. Mythenbilder zu erkennen32; dies werde durch omnipräsente ‚heroische‘ Attribute angezeigt, deren außeralltäglich-homerische Semantik aber fraglich bleibt (‚Dipylon-Schild‘).33 Schließlich wurden auch sämtliche figürliche Bilder der geometrischen Epoche für generische Szenen gehalten, weil es durchweg zu Widersprüchen mit dem homerischen Epentext komme – so auch auf der Kanne in München, denn Odysseus’ Schiffbruch wird bei Homer anders geschildert.34 Erste Mythenbilder erschienen demnach erst in der ersten Hälfte des 7. Jhs. v. Chr. Carters und Fittschens Studien nahmen in dieser Debatte eine vermittelnde Stellung ein.35 Auch der visuell-bildmotivische Einfluss orientalischer Artefakte wurde in Betracht gezogen. Snodgrass zeigte zuletzt, dass Bilder im Sinne von Illustrationen spezifischer homerischer Narrative nicht vor dem 7. Jh. v. Chr. nachweisbar sind.36
In neuerer Zeit traten andere Forschungsperspektiven hinzu. Giuliani nahm eine narratologische Perspektive ein37: Er bezeichnete die szenischen Bilder des 8. Jhs. v. Chr. als ‚deskriptiv‘, indem sie – ähnlich wie in der Schildbeschreibung der Ilias (18, 477-608) – den Zustand und die Gegebenheiten der Welt zeigten. Erst durch die Darstellung außerordentlicher, so „in der Welt“ nicht vorkommender Objekte (trojanisches Pferd auf Rädern) oder Taten (Blendung eines betrunken gemachten Riesen) wandele sich dies – wohl unter dem Einfluss Homers – im früheren 7. Jh. v. Chr. zu ‚narrativen‘ Darstellungen, die einer namentlichen Benennung der Akteure (Heroen) und eindeutiger Erzählungen bedurften. Langdon hingegen interpretierte die geometrischen Bilder („released from the shadow of Homer“)38 in strukturalistischer Perspektive als Verhandlungen sozialer Identitäten und ‚rites de passages‘.
Die seit dem 7. Jh. oft inschriftlich benannten Bilder homerischer Helden bis zum 4. Jh. v. Chr. wurden fast durchweg im Rahmen des Bildcorpus sämtlicher griechischer Götter- und Heroenmythen untersucht39, in neuerer Zeit zudem im Kontext zeitgleicher, mit ihnen typologisch oft eng verwandter generischer Darstellungen (‚Lebensbilder‘). Dabei hat man sie – wie Mythen in der griechischen Frühzeit per se – als visuelle Debatten um Problemlagen, Normen, relevante soziale Praktiken, Rollen- und Leitbilder der Lebenswelt erklärt.40 Junker arbeitete heraus, dass viele Bilder homerischer Helden des 6. und 5. Jhs. v. Chr. „Pseudo-Homerica“ darstellen, d. h. homerische Namen und Themen zwar aufgriffen, vor allem aber durch deren inhaltliche Weiterentwicklung Aufmerksamkeit erzeugten.41
Bilder homerischer Helden aus jüngeren Epochen haben kaum ein spezifisches Forschungsinteresse gefunden, so in der hellenistischen Keramik (‚Homerische Becher‘)42, als Schmuck römischer Villen in Reliefs (‚Tabulae Iliacae‘)43, Skulpturen (Villa von Sperlonga)44 und Wandmalerei.45 Soeben sind auch spätantike und frühmittelalterliche Darstellungen des Odysseus erneut untersucht worden.46 (vdH)
Attisch-geometrische Kanne, spätes 8. Jh. v. Chr. Ton, Höhe 21,5 cm. München, Antikensammlung, Inv.-Nr. 8696.
Quelle: Foto der Staatlichen Antikensammlungen München
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Die Entstehung der schriftlich gefassten homerischen Epen aus mündlicher Tradition und die Entstehung visueller Darstellungen ihrer Akteure, die Homer durchweg als Heroen bezeichnet, scheinen – wenn auch nicht exakt datierbar – im Laufe der Entstehung von Mythenbildern in Griechenland während der Zeit um und nach 700 v. Chr. Hand in Hand vonstattengegangen zu sein. Direkte Abhängigkeiten oder vorrangige Inspiration durch Homer lassen sich kaum nachweisen. Quantitativ ragte seit etwa 670 v. Chr. zunächst Odysseus als erster homerischer Heros, der bildlich figuriert wurde, heraus, wobei vor allem seine Leistungen im ⟶Kollektiv (Odyssee 9, 166-566: Blendung des Polyphem, Abb. 2; Flucht aus dessen Höhle) Interesse fanden.47 Dem folgten seit dem späteren 7. Jh. v. Chr. bspw. Patroklos, Menelaos und Achilleus, seit dem 6. Jh. v. Chr. eine Vielzahl weiterer homerischer Figuren wie Aias, Paris, Hektor, Agamemnon, Sarpedon u. a. Inhaltlich nimmt der Fokus auf Darstellungen von Kriegern beim Auszug (Abb. 4), im Kampf (Abb. 3) und als Gefallene zu. Die Verbindungen zu nicht-homerischen Szenen sind dabei bis zum 5. Jh. v. Chr. eng.48 Sie erscheinen zudem in vielen anderen Situationen: Achills Racheschändung der Leiche Hektors (Ilias 22, 395-404) ist vor allem im 6. und frühen 5. Jh. v. Chr. beliebt;49 die Auslösung der Leiche Hektors (Ilias 24) zeigt man bis ins 5. Jh. v. Chr. als Szene der ‚Hybris‘ Achills beim Mahl.50 Dem stehen aber auch genrehafte Szenen gegenüber51: So stellt man Achill bei der Versorgung des verwundeten Patroklos dar (Abb. 5).52 Ein Brettspiel zwischen Aias und Achill ist von etwa 530 bis ins frühe 5. Jh. v. Chr. sogar das beliebteste Achilleus-Thema (Abb. 6), obgleich wir keine Textreferenz kennen.53 Homerische Helden werden mithin, ohne einen besonderen Status gegenüber anderen mythologischen Figuren zu erhalten, als Vertreter aristokratischer Ideale und Lebensform (Krieg; Agon; Gelage), später auch demokratischer Werte (Streit um die Waffen Achills als Abstimmungsszene54) oder paradigmatischer, nicht zuletzt aber auch problematischer, transgressiver Situationen (Rache; Selbstmord; Gewalt) gezeigt. Dass dabei auch Grundfragen des Umgangs mit Ruhm (kleos) visuell thematisiert wurden, ist neuerdings herausgearbeitet worden.55
Insgesamt machen Szenen mit homerischen Helden unter den griechischen mythologischen Bilddarstellungen des 7. bis 5. Jhs. v. Chr. nie mehr als 30 Prozent aus.56 Herakles war – vor allem in Athen – weitaus beliebter als Achilleus, so dass Homers Figuren die visuelle Kultur weit weniger und weit weniger auf ihre Erfolge im kriegerischen Kampf bezogen prägten als die Wertschätzung Homers es erwarten lassen könnte.
Bis zum Ende des 5. Jhs. v. Chr. dominierten Bilder Homerischer Helden – wie die sämtlicher Mythen – auf bemalter Luxuskeramik, als Gerät- und Waffenschmuck und seit dem 6. Jh. v. Chr. auch an aufwändigen Architekturen wie Tempeln. Statuarische Darstellungen sind selten. Überliefert sind beispielsweise eine Statue der Penelope aus dem früheren und eine Statue des Diomedes aus dem späteren 5. Jh. v. Chr., die ihn mit dem aus Troja geraubten Palladion zeigte, eine Episode der sog. ‚Kleinen Ilias‘ (Abb. 7).57 Der bekannte ‚Doryphoros‘ des Polyklet aus dem mittleren 5. Jh. v. Chr. wird bisweilen als Achilleus identifiziert, doch ist dies unsicher.58 Alexander d. Gr. (356–323 v. Chr.) bezog sich auf Achilleus als Modell, doch lassen sich keine Bildwerke nachweisen, die dies explizit zeigen.59 Plinius d. Ä. berichtet im 1. Jh. n. Chr. (naturalis historia 34, 18), dass Statuen nackter Männer mit Lanze als effigies Achilleae bezeichnet wurden, Achill also als Modell für den athletisch trainierten Krieger und Athleten galt. Angleichungen an homerische Helden spielten aber in der römischen Porträtkunst eine untergeordnete Rolle.60
Römische Kopie einer Statue des späteren 5. Jhs. v. Chr. (Palladion fehlt). Marmor. München, Glyptothek Inv. 304.
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Ein andersartiges, stärker auf die Illustration fokussiertes Interesse bedienten seit dem 3./2. Jh. v. Chr. narrativ breiter angelegte, zyklische Darstellungen aus den Epen, wie auf den ‚Homerischen Bechern‘ oder seit dem 1. Jh. v. Chr. auf den ‚Tabulae Iliacae‘ (Abb. 8), dann auch in der römischen Wandmalerei (Odysseefresken vom Esquilin in Rom, um 40 v. Chr.).61 Im Hellenismus entstanden Skulpturen, die Homers Heroen szenisch, frei- und großplastisch vorführten, so die ‚Pasquino-Gruppe‘, die Aias mit dem Leichnam Achills oder Menelaos mit demjenigen des Patroklos wiedergibt (Abb. 9)62, und Achill, der die sterbende Amazone Penthesilea hält.63 Verstärkt durch die Entstehung großer Villen mit reichem Bildschmuck vor allem in Italien schuf man Kopien dieser Skulpturen und größere Figurenensembles, so gegen 30 v. Chr. die Skulpturen in der Grotte der Villa bei Sperlonga, die eine ‚Odyssee in Marmor‘ inszenierten (Abb. 10–11).64 Seit dem 1. Jh. v. Chr. wird in Rom Aineias (lat. Aeneas) als Gründerheros Roms und Urahn der iulischen Familie, aus der Caesar und Augustus stammten, häufiger dargestellt und zu einem Exemplum römischer Tugend (virtus) und der Romanitas65 in der Folge bspw. an Grabbauten in den Provinzen, aber auch in der Münzprägung, wo italische Familien genealogisch auch auf andere homerische Helden und Städte Kleinasiens auf homerische Traditionen verwiesen.66 Als seit etwa 120 n. Chr. im Imperium Romanum reliefierte Sarkophage mit mythologischen Szenen als Grablegen aufkamen, wurden dabei homerische Helden vor allem in Griechenland ein beliebtes Darstellungsthema, um Qualitäten der Verstorbenen im Bezug zur heroischen Vergangenheit zu verdeutlichen.67 Odysseus und die Sirenen erschienen auf italischen Sarkophagen im 3. Jh.68 Auf bronzenen Beschlägen eines Prachtwagens in Rom stellte man damals Szenen aus der Vita des Achill dar (‚Tensa Capitolina‘)69; Silber- und Messinggeschirr zeigten die Achillvita bis ins 6. Jh. (Abb. 12).70 Um 500 n. Chr. wurde in Alexandria oder Konstantinopel die Ilias in einer Textausgabe illustriert (‚Ilias Ambrosiana‘, Abb. 13).71 Die Behauptung Prokops, die Statue des oströmischen Kaisers Iustinian (527–565) am Augusteion in Konstantinopel zeige ihn im schema Achilleion (de aedificiis 1, 2, 7-12), liefert ein spätes Zeugnis für den ⟶präfigurativen Charakter Homerischer Heroen für das Herrscherbild. Darstellungen des Odysseus im Sirenenabenteuer stellen in der Bildüberlieferung eine Brücke zum Mittelalter dar.72 (vdH)
Eine umfassende Studie zu Bilddarstellungen homerischer Helden in der Antike fehlt. Die Forschungen zur Entstehung solcher Bilder in der Zeit Homers und danach haben sich bisher auf die Bezüge zwischen Bildern und Texten konzentriert, weniger darauf, die frühen Bildkonzepte zur Darstellung außerordentlicher Figuren zu untersuchen.73 Der Anteil visueller Medien an der Heroisierung einzelner Akteure der Epen und an Heroismen wurde deshalb weniger reflektiert als die Homerrezeption. Andererseits liegen auch keine systematischen Studien dazu vor, ob und wie sich Heroenbilder bestimmter Bildformeln bedienten, um Außerordentlichkeit anzuzeigen, so bspw. durch homerisierende Antiquaria74 oder durch die Integration lokaler Heroen in Szenen mit homerischen Helden.75 Homerische Helden wurden in der Antike einerseits als Leitbilder ehrhaften und damit ruhmreichen Handelns visualisiert, andererseits – und dies vor allem bis zum 4. Jh. v. Chr. – als Figuren eines mythologischen Diskurses um Normen und Handlungsideale, denen keinesfalls zwingend Vorbildcharakter zugeschrieben wurde: Auch Gefahren von Ehre und Ruhm oder Hybris wurden in ihnen verhandelt, problematische Helden waren ebenso wichtig wie exemplarische. Weitere Faktoren sind verstärkt erst seit dem Hellenismus und in der römischen Kaiserzeit zu erkennen: Homerische Helden wurden nun als Exempla unmittelbar visuell in die Gegenwart übertragen, so in Formen der ⟶imitatio heroica, und man stellte sie als Akteure zyklischer, narrativer Sequenzen des Epos dar, deren Repräsentation offenbar mit Vorstellungen von Bildung und Traditionsprestige verknüpft waren. Im Einzelnen ließen sich Verknüpfungen und Grenzen zwischen diesen Phänomenen genauer beleuchten, um Phänomene der Heroisierung ebenso wie solche der Exemplarität homerischer Helden besser zu verstehen. (vdH)
Abb. 1: Schiffbruch. Attisch-geometrische Kanne, spätes 8. Jh. v. Chr. Ton, Höhe 21,5 cm. München, Antikensammlung, Inv.-Nr. 8696.
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Abb. 2: Blendung des Polyphem (Odyssee 9, 166-566). Attische Halsamphora, gegen 670 v. Chr. Ton. Eleusis, Archäologisches Museum Inv. 2630.
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Abb. 3: Zweikampf des Menelaos und Paris (Ilias 3, 250-461). Attisch-rotfigurige Trinkschale, gegen 490 v. Chr. Ton. Paris, Musée du Louvre Inv. G 115.
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Abb. 4: Achilleus erhält von Thetis die Waffen des Hephaistos (Ilias 19, 1-36). Attisch-schwarzfigurige Hydria, gegen 570/60 v. Chr. Ton. Paris, Musée du Louvre Inv. E 869.
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Abb. 5: Achill verbindet Patroklos. Attisch-rotfigurige Trinkschale des Sosias, um 500/490 v. Chr. Ton. Berlin, Staatliche Museen/SMPK – Antikensammlung Inv. F 2278.
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Abb. 6: Aias und Achill beim Brettspiel. Attisch-schwarzfigurige Bauchamphora des Exekias, gegen 530 v. Chr. Ton. Rom, Musei Vaticani Inv. 16757.
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Abb. 7: Diomedes. Römische Kopie einer Statue des späteren 5. Jhs. v. Chr. (Palladion fehlt). Marmor. München, Glyptothek Inv. 304.
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Abb. 8: ‚Tabula Iliaca‘ mit Reliefdarstellungen der Ilias. Römische Kopie eine hellenistischen Statuengruppe (mit modernen Ergänzungen). Marmor. Florenz, Loggia dei Lanzi.
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Abb. 9 & Teaserbild: Aias mit dem Leichnam Achills oder Menelaos mit dem Leichnam des Patroklos. Römische Kopie eine hellenistischen Statuengruppe (mit modernen Ergänzungen). Marmor. Florenz, Loggia dei Lanzi.
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Abb. 10: Skylla greift das Schiff des Odysseus an (Odyssee 12, 222-259). Späthellenistische Statuengruppe (Ende 1. Jh. v. Chr.) aus der Villa von Sperlonga. Marmor. Museo Archaelogico di Sperlonga.
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Abb. 11: Odysseus und seine Gefährten blenden Polyphem (Odyssee 9, 166-566). Rekonstruktion einer späthellenistischen Statuengruppe (Ende 1. Jh. v. Chr.) aus der Villa von Sperlonga (Rekonstruktion). Gips (Abgüsse). Museo Archaeologico di Sperlonga.
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Abb. 12: Platte mit Reliefdarstellungen aus dem Leben des Achill, um 350 n. Chr. Silber, Durchmesser 53 cm. Augst, Römermuseum Inv. 62.1.
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Abb. 13: Odysseus und Diomedes fangen Dolon (Ilias 10). Illustration in der Ilias Ambrosiana, 5. Jh. n. Chr. Mailand, Bibliotheka Ambrosiana Cod. F 205 inf. Nr. 34.
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Stefan Tilg / Ralf von den Hoff: „Homerische Helden“. In: Compendium heroicum. Hg. von Ronald G. Asch, Achim Aurnhammer, Georg Feitscher und Anna Schreurs-Morét, publiziert vom Sonderforschungsbereich 948 „Helden – Heroisierungen – Heroismen“ der Universität Freiburg, Freiburg 26.06.2019. DOI: 10.6094/heroicum/homhd2.0