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Deheroisierung

  • Version 1.0
  • publiziert am 4. März 2019

1. Einleitung

Deheroisierung erscheint als ein Phänomen, das vom sprichwörtlichen Glanz des Helden und seines Ruhms, von den Verhältnissen wechselseitiger Bespiegelung des Helden und der Gesellschaft nur allzu leicht überstrahlt und deswegen unsichtbar wird. Dabei stellt sich durchaus die Frage, ob es ⟶Heroisierung und somit Helden ohne den Prozess der Deheroisierung, also der Infragestellung, Aberkennung oder des Verlusts des Heldenstatus, überhaupt geben kann, ob Deheroisierung als die Kehrseite von Heroisierung nicht konstitutiver Bestandteil des Heroischen ist. Dieser Gedanke ist naheliegend, wenn man z. B. an die über Jahrhunderte gültige agonale Logik des Heroischen denkt, der zufolge der Herausforderer nach der Überwindung des Helden im ⟶Zweikampf als einer Form der Deheroisierung dessen Stelle einnimmt und selbst zum Helden wird.

Aber was wäre, wenn Deheroisierung nicht nur eine Etappe im ständigen Auf und Ab der Geschichte von Helden wäre, die ihren Status einbüßen und auf diese Weise neuen Helden Platz machen? Was, greift man aus den verschiedenen Möglichkeiten, Deheroisierung zu verstehen, eine sicher extreme Form heraus, wenn der Prozess der Deheroisierung auf das Heroische selbst ausgreifen und diese Kategorie sozialer, innerweltlicher Transzendenz als solche in Frage stellen würde? Der Prozess der Deheroisierung hätte dann paradoxerweise ebenfalls an Bedeutung verloren. Geht es, wenn wir von Deheroisierung sprechen, um den Statusverlust einzelner Heldenfiguren oder -typen bzw. bestimmter Modelle des Heroischen, oder gar – als eine Art Extremform von Deheroisierung – um die Infragestellung des Heroischen als solchem?

Diese Fragen dokumentieren die Bedeutungsvielfalt des Begriffs, um der Ausdifferenzierung des Phänomens Deheroisierung Rechnung zu tragen. Wie verhält sich Deheroisierung z. B. zu affinen Prozessen wie jenem nicht-intentionaler Entheroisierung, zu Phänomenen wie dem Unheroischen, das als Kontrast auf das System des Heroischen bezogen bleibt, bzw. dem Aheroischen als einem Verhaltensmuster, auf das die Kriterien des Heroischen und damit auch jene der Deheroisierung keine Anwendung finden, oder zu Figuren wie dem Antihelden?

Wie eng Heroisierung und Deheroisierung miteinander verbunden sind, wenn es um die Beschreibung von Helden geht, erkennt man u. a. am Beispiel des mittelalterlichen Epos bzw. seiner späteren Prosafassungen, aber auch der Theaterstücke der Frühen Neuzeit. Denken wir etwa an die französischen ,chansons de geste‘, z. B. die Chanson de Roland (um 1100), dessen titelgebender Held Anführer der Nachhut des karolingischen Heeres ist, das von den Sarrazenen bei Roncesvalles attackiert wird. Aufgrund seines Übermuts und Leichtsinns und eines verspäteten Hilferufs scheint er seinen Heldenstatus einzubüßen, erst im finalen und tödlichen Kampf gegen die Übermacht der Sarrazenen gelingt es, ihn wiederzuerlangen. Ein weiteres Beispiel wäre Corneilles Theaterstück Horace (1641), in dem es um wiederholte Prozesse von Deheroisierung und Heroisierung des Protagonisten geht, der, und ich greife nur einen Moment dieses Prozesses heraus, um seinen heldenhaften Kampf für die Sache Roms gegen die Curiatier nicht zu gefährden, die eigene Schwester tötet. Dieses Verbrechen negiert zunächst seine Heldentat, bis der König in der Schlussszene des Stücks dem angeklagten Krieger verzeiht: „Vis donc, Horace, vis, guerrier trop magnanime: / Ta vertu met ta gloire au-dessus de ton crime.“1Corneille, Pierre: Œuvres completes. Band 1. Paris 1980: Gallimard, 900. Darüber hinaus stehen sich in diesem Theaterstück in Gestalt der Söhne ihrer vornehmsten Familien zwei verfeindete Städte, Rom und Alba Longa, gegenüber, sodass im Kampf der beiden Gruppen die Heroisierung der einen mit der Deheroisierung der anderen einhergeht.

2. Die zeitliche Ordnung von Deheroisierung und (Re-)Heroisierung

2.1. Die mikrohistorische Ebene

Versucht man diese enge Verbindung von Heroisierung und Deheroisierung zu verstehen, so sticht zunächst, und das zeigen die vorstehenden Beispiele, die zeitliche Ordnung, die temporale Logik des Prozesses der Deheroisierung, ins Auge. Sie interferiert mit der bereits erwähnten agonalen Logik des Heroischen, deren anthropologische, psychologische, historische oder soziologische Hintergründe an dieser Stelle unberücksichtigt bleiben sollen. Ihr zufolge wird der im Kampf bzw. der Auseinandersetzung erworbene Heldenstatus immer wieder von Gegnern in Frage gestellt, das Heroische wird demnach paradoxerweise durch das Phänomen der Deheroisierung perpetuiert. Das dieser heroischen Logik entsprechende zyklische Schema kann sich dabei auf das System des Heroischen insgesamt und seine ⟶Medialisierungsformen wie z. B. das Epos beziehen („L’épopée n’a ni commencement ni fin. Et ainsi en devrait-il être du héros: apparaissant, disparaissant, simple et gracieux support d’une action merveilleuse“2Blanchot, Maurice: „Le Héros“. In: Nouvelle Revue Française 145 (1965), 90-104, 103.), aber auch im Sinne einer an der einzelnen ⟶Heldentat bzw. der einzelnen ⟶Heldenfigur ansetzenden mikrohistorischen Dimension auf den einzelnen Helden und seine Geschichte, die Figur Napoleons wäre hierfür beispielhaft.3Vgl. Marquart, Benjamin: „Deheroisierung im politischen Diskurs: Chateaubriands Auseinandersetzung mit Napoleon [1814–1821]“. In: helden. heroes. héros. E-Journal zu Kulturen des Heroischen 3.1 (2015), 142-144. DOI: 10.6094/helden.heroes.heros/2015/01/13. Das Zögern und partielle Scheitern des strauchelnden Protagonisten, dessen heldenhafter Sieg, nicht zuletzt über sich selbst, am Ende umso strahlender erscheint, die Geschichte progressiver Bewährung, wie wir sie aus dem Modell der ,aventure‘ oder der ,quête‘ kennen, sowie die zwischen den Polen von Heroisierung und Deheroisierung oszillierende Wahrnehmung des Publikums – dies wären nur einige typische Beispiele einer solchen zyklischen Struktur auf der Ebene des Helden und seiner Taten. Eng mit ihr verbunden ist das, was man die für das Heroische charakteristische Überbietungslogik nennen könnte: Eine einmal begangene Heldentat muss vom Helden übertroffen werden, damit dieser außergewöhnlich bleibt und weiterhin als heroisch angesehen werden kann („De fait, le héros doit constamment reprendre l’initiative, se faire reconnaitre une fois de plus à partir d’un nouvel acte surprenant, d’une nouvelle apparition souveraine“4Starobinski, Jean: „Sur Corneille“. In: Les Temps Modernes (1954): 713-729, 722.). Damit ist analog zur bereits erwähnten agonalen Logik die im Begriff der Überbietung implizite und sich stetig beschleunigende Deheroisierung (der vormaligen, nunmehr übertroffenen Heldentat) konstitutiv für das Verständnis dessen, was eine Heldentat und damit Heroisierung ist.

Am anderen Ende dieser Skala, unter umgekehrtem Vorzeichen, konkretisiert sich dieses nicht minder zyklische und an Heldentat und Heldenfigur ansetzende Schema von Deheroisierung im Modus der Epigonalität: Als Figur der Nachzeitigkeit, von Wiederholung und Differenz ist die Nachahmung der Heldentat (vgl. das Prinzip der imitatio heroica) nicht nur nicht mit dieser identisch, es fehlen ihr im Fall der Epigonalität auch wesentliche heroische Attribute: Erst- und Einmaligkeit, Unvergleichlichkeit, Unvorhersehbarkeit etc.

Betrachtet man zuletzt die zeitliche Ordnung von Deheroisierung und (Re-)Heroisierung noch grundsätzlicher, kann man den transitorischen, zeitlich instabilen Charakter des Heroischen kaum übersehen: Die Heldentat ist eine außergewöhnliche und in diesem Sinne einmalige Handlung, der keine Dauer eignet, ein „exploit éblouissant, [qui] s’affirme dans l’instant et semble être le rayonnement d’une lumière: cet éblouissement est la gloire, elle ne dure pas et elle ne peut s’incarner“.5Blanchot: „Le Héros“, 1965, 102. Dies gilt für die Heldentat wie für den mit ihr verbundenen Ruhm, der ständiger kommunikativer Erneuerung bedarf, um nicht zu verblassen, einer Bestätigung, deren sichtbarstes und illusorisches Zeichen der Name des Helden selbst ist, als vergeblicher Ausdruck gesicherter Kontinuität der Taten sowie der Identität des Helden, eines „pouvoir de redondance qui vient du nom et qui se déploie dans la renommée“.6Blanchot: „Le Héros“, 1965, 94. Und treibt man diese Vorstellung des transitorischen Charakters des Heroischen auf die Spitze, verkürzt man also die Zeitintervalle, die Heroisierung und Deheroisierung voneinander trennen, konvergieren Deheroisierung und Heroisierung: Der Held ist Held (nur) im Moment der vollbrachten Heldentat, deren Ruhm verblasst, banalisiert bzw. von jenem anderer Heldentaten abgelöst wird. Der Held ist zugleich Held und Mensch, er ist Repräsentant eines gesellschaftlichen Wertesystems, das er zugleich ⟶transgrediert – um nur wenige Beispiele dieser oszillierenden Bewegung von Heroisierung und Deheroisierung zu nennen.

2.2. Die makrohistorische Ebene

Die zeitliche Ordnung von Deheroisierung, die hier in ihrer mikrohistorischen Ausprägung am Beispiel des oder der Helden und seiner bzw. ihrer Taten beschrieben wurde, kennt natürlich auch eine makrohistorische Variante. Sie betrifft dann, über einzelne Heldentaten und Heldenfiguren hinausgehend, Modelle des Heroischen, ihre Konkurrenz im Spiel wechselseitiger (De-)Heroisierung, ihre diskursive Verhandlung7Vgl. Marquart: „Deheroisierung im politischen Diskurs“, 2015., Transformation oder Ablösung durch andere Modelle. Historische Schlüsselmomente der Transformation überkommener Vorstellungen des Heroischen wären so z. B. in der Renaissance der Rückgriff auf antike Heldenfiguren, die sogenannte (und bisweilen bestrittene) ,démolition du héros‘ im 17. Jahrhundert8Vgl. Bénichou, Paul: Morales du grand siècle. Paris 1948., oder die im 18. Jahrhundert erfolgende Kritik am militärischen Heldentum zugunsten der Ausbildung des Konzeptes des grand homme oder eines Tugend-Heroismus (in der berühmten Formulierung Voltaires: „Vous savez que, chez moi, les grands hommes vont les premiers, et les héros les derniers; j’appelle grands hommes tous ceux qui ont excellé dans l’utile ou dans l’agréable; les saccageurs de provinces ne sont que héros“9Voltaire: Œuvres complètes. Band 33. Paris 1877-1885: Garnier, 506; vgl. auch Willis, Jakob: „Deheroisierung in der Komödie: Molières Dom Juan ou le festin de pierre [1665/1682]“. In: helden. heroes. héros. E-Journal zu Kulturen des Heroischen 3.1 (2015), 140-141. DOI: 10.6094/helden.heroes.heros/2015/01/13.). Auf diese Art und Weise könnte man eine Geschichte konzeptueller Umbrüche des Heroischen schreiben, die bis in die Gegenwart fortdauert (vgl. z. B. die These von der postheroischen Gesellschaft). Selbstverständlich erfolgt die Beschreibung solcher historischer Prozesse und ihrer Entwicklungslogiken im Rahmen bestimmter Inszenierungsformen – z. B. im Rahmen einer Generationenproblematik, wenn etwa der Vater Don Juan in Molières gleichnamigem Stück von 1665 vorwirft, sich der heroischen und ruhmreichen Vergangenheit der Vorfahren unwürdig zu erweisen, deren Glanz ihn und sein Verhalten paradoxerweise deheroisiere, „et leur gloire est un flambeau qui éclaire aux yeux d’un chacun la honte de vos actions“.10Molière: Œuvres completes. Band 2. Paris 2010: Gallimard, 889; vgl. Willis: „Deheroisierung in der Komödie“, 2015. Auch spielen bestimmte narrative, historiographische, wenn nicht sogar geschichtsphilosophische Vorannahmen eine Rolle. So würde die normative Vorstellung einer notwendigen Dekadenz oder Korruption des Heroischen dazu führen, beispielsweise im heroisierten Freiheitskämpfer bereits den zukünftigen Despoten zu erkennen und seine Geschichte im Sinne dieser Hypothese nachzuzeichnen.

Geschichtsschreibung könnte in diesem Fall selbst zu einem Akteur im Prozess der Deheroisierung werden. Eine solche Geschichte der Deheroisierung müsste dabei alle Faktoren, die die Herausbildung eines ⟶kulturellen Gedächtnisses determinieren, berücksichtigen (u. a. mediale Dispositive und ästhetische Modelle) und die Frage nach der gesellschaftlichen Funktion solcher Kommunikationsprozesse über das Heroische stellen. Dies gilt nicht zuletzt mit Blick auf die Intentionalität bzw. Nicht-Intentionalität von Prozessen der Deheroisierung.11Vgl. Helm, Katharina: „Deheroisierung durch Zerstörung: Das Reiterstandbild Philipps V. in Neapel [1705–1707]“. In: helden. heroes. héros. E-Journal zu Kulturen des Heroischen 3.1 (2015), 141-142. DOI: 10.6094/helden.heroes.heros/2015/01/13. So werden die mit der Deheroisierung konkreter Helden oder Heldentaten verbundenen Aspekte des Meinungsstreits, konfligierender Gruppeninteressen etc. sicher stärker bei einer synchronen Betrachtung des Phänomens der Deheroisierung sichtbar12Vgl. Marquart: „Deheroisierung im politischen Diskurs“, 2015., Verschiebungen gesellschaftlicher Werthorizonte, die den jeweils gültigen Heroismusbegriff transformieren, eher auf einer diachronen Ebene.

3. Die Deheroisierung als binäres oder graduelles Phänomen

Auch wenn es möglich ist, Deheroisierung als einen sprunghaften Übergang, einen Kategorienwechsel zu beschreiben – man kann nur Held oder kein Held sein –, so stellt sich angesichts der Komplexität der skizzierten zeitlichen Logik bzw. historischen Prozessualität von Deheroisierung doch die Frage, ob es sich dabei tatsächlich um ein derart absolutes Phänomen handelt. Zwar trifft es zu, dass die Dialektik des Heroischen an Vorstellungen der Einzigartigkeit und Unvergleichlichkeit des Helden geknüpft ist, der kein ,Seinesgleichen‘, keine Verhältnisse der Ebenbürtigkeit kennt. Diese Dialektik erkennen wir im 17. Jahrhundert in der zur Heldenfigur stilisierten Person des absolutistischen Herrschers wieder, dessen spannungsreiche Beziehung zur via Geburtsrecht der heroischen Sphäre zuzurechnenden Aristokratie einem solchen Ausschließlichkeitsprinzip verbunden ist. Aber die Prozesse der öffentlichen Wahrnehmung von Helden verlaufen nicht ausschließlich nach einem binären Schema. Das Heldengedächtnis oder die Heldengeschichte zeichnet sich vielmehr gerade dadurch aus, dass es die Erinnerung an den Helden in Abstufungen bewahrt, auch wenn seine Heldentaten verblassen oder ihre für die Gesellschaft konstitutive Bedeutung nachlässt. Deheroisierung könnte somit vor allem als ein Phänomen der ,longue durée‘, auch als ein graduelles Phänomen verstanden werden; es wäre demnach vorstellbar, mehr oder weniger Held und nicht nur Held oder kein Held zu sein. Ein möglicher Artikulationsmodus, in dem sich Deheroisierung graduell ausprägt, wäre im hier angesprochenen Bereich der Rezeptionsgeschichte des Helden das Phänomen des Medienwechsels.13Vgl. Helm: „Deheroisierung durch Zerstörung“, 2015.

Aber auch ohne einen Medienwechsel sind deheroisierende Effekte bezüglich ein und desselben Darstellungsmediums zu beobachten, wenn etwa Monumente im Sinne einer Raumlogik aus ideologischen oder anderen Gründen ihren Standort im öffentlichen Raum und mit Blick auf das imaginäre Zentrum der Gemeinschaft nach und nach verändern (vgl. z. B. die sukzessiven Dislokationen der Judith und Holofernes-Skulptur des Donatello im Florenz des 15. und 16. Jahrhunderts). Die Endstufe eines solchen Prozesses einer stufenförmig verlaufenden, intentionalen Deheroisierung wäre z. B. die Zerstörung eines Denkmals, wie etwa des ⟶Reiterstandbilds Philipps V. in Neapel, das während des Einzuges der Truppen Karls VI. im Rahmen des Spanischen Erbfolgekrieges 1707 zerschlagen wurde.14Vgl. Helm: „Deheroisierung durch Zerstörung“, 2015. Diese Zerstörung hinterlässt eine Leerstelle in der Gedenktopographie des öffentlichen Stadtraumes, welche als solche auf eine spezifische Weise sinnträchtig ist, oder neu besetzt und damit inhaltlich neu bestimmt werden kann. Vorstellbar ist bezüglich der Rezeption von Monumenten in der ,longue durée‘ aber auch eine Form progressiver Entheroisierung, wenn die dargestellte Figur etwa als Ergebnis immer größerer historischer Distanz zum zeitgenössischen Publikum unkenntlich und unbekannt geworden ist.

Die Annahme einer graduellen Ausprägung von Deheroisierung (und Heroisierung) hätte, wenn wir auf der Ebene der Rezeption einer Heldenfigur verweilen, Auswirkungen auf die bereits erwähnte und dem Heroismus inhärente Vorstellung der imitatio heroica. Wenn es Heldentum in der ein wenig paradoxen Form abgestufter Exzellenz gibt, dann hat diese Differenzfigur Konsequenzen für die Idee der Nachahmbarkeit heldenhaften Handelns, das erlernt werden und sich im Sinne einer Stufenleiter des Heroischen einem heroischen Ideal annähern könnte. Deheroisierung wäre dann eine Etappe auf dem Weg der Heroisierung, ein retardierendes Element, eine Figur der Reliefgebung, die die (schlussendliche) Heroisierung einer Person umso bedeutsamer und außergewöhnlicher erscheinen ließe. Man denke, um erneut ein Beispiel aus der Epik zu zitieren, an die Geschichte von Parzival und das Thema der Gralssuche, aber auch ganz allgemein an das Motiv der Heldenreise als Vorwand und Anlass steter Bewährung. Zweitens bedeutet diese Vorstellung einer graduellen Ausprägung von Deheroisierung, dass dieser Prozess reversibel erscheint, dass der Held den einmal verlorenen oder den im Prozess einer stufenförmig erfolgenden Heroisierung vorübergehend eingebüßten Heldenstatus wiedererlangen kann.

4. Gattungsgeschichtliche und mediale Aspekte

Die bisher diskutierten Auffassungen von Deheroisierung und Heroisierung haben grundsätzliche Auswirkungen auf die literarische Darstellung des Heroischen. Lässt sich gar eine gattungsgeschichtliche Ausdifferenzierung im Zeichen von Heroisierung und Deheroisierung beobachten? Statt Deheroisierung im Sinne einer binären Logik z. B. im Modell der Tragödie als plötzlichen und katastrophal erfahrenen Verlust des Heldenstatus zu beschreiben, bzw. umgekehrt als sublime Figur heroischer Präsenz, kann die Auffassung gradueller Deheroisierungs- und (Re-)Heroisierungsprozesse sich in stärker narrativen Gattungen u. a. in Gestalt einer Entwicklungsgeschichte des Helden (unter Zugrundelegung des Schemas des Abenteuers, des Bildungsgangs etc.) manifestieren und dabei, nimmt man etwa die Romane des französischen Realismus wie Stendhals Le Rouge et le Noir (1830), Balzacs Le Père Goriot (1834) bzw. Flauberts Éducation sentimentale (1869) als Beispiel, zu äußerst ambivalenten, wenn nicht offen ironischen Beschreibungen der neuen Helden des bürgerlichen Zeitalters führen.

Die Aufgabe einer solchen Gattungsgeschichte im Zeichen von Heroisierung und Deheroisierung wäre es dann, die hier nur angedeuteten komplexen Entwicklungen vom Epos über die Tragödie, die Komödie15Vgl. Willis: „Deheroisierung in der Komödie“, 2015., den ,roman héroïque‘, den ,roman bourgeois‘ und weitere Stationen bis zum modernen Roman und anderen literarischen Formen nachzuzeichnen. Auch spezifische ,deheroisierende‘ Gattungen wie die Satire, die Parodie (vgl. als Musterbeispiel Cervantes’ Don Quijote von 1605/1615 als Parodie auf den Ritterroman), das Pastiche oder Mischgattungen wie die Tragikomödie verdienten ebenso eine vertiefte Betrachtung wie der Roman als ‚ironische‘ und damit potentiell deheroisierende Gattung sowie seine Subgattungen wie die Pikareske u. a. Auch stünde die Frage im Raum, ob die sich im 17. und vor allem 18. Jahrhundert herausbildende Presse nicht als Medium von Deheroisierung ,par excellence‘ angesehen werden könnte. Schließlich stellt sie ein Beobachtungsdispositiv bzw. eine Form kritischer Öffentlichkeit dar, indem sie z. B. die Raumstruktur der seinerzeit neu entstehenden Cafés und damit den konversationellen Umgang mit der Heldenthematik, den Verlust der Aura des Helden, ihre Trivialisierung durch Repetition (u. a. auch im Kontext von Medienkonkurrenzen) thematisiert.

Würde man eine solche Betrachtung der medialen Form von Deheroisierungsprozessen von der Ebene der Gattung und ihrer Merkmale auf die Ebene des Einzeltextes und die Frage der Textgestaltung herunterbrechen, was hier nur noch angedeutet werden kann, müsste man verschiedene Verfahrensweisen der Produktion von Mehrdeutigkeit und Ambivalenz analysieren, wie die Doppelkodierung (Ironie), die Verwechslung, das Wiedererkennen, das Sprachspiel, Manierismen, Formen rhetorischer Hypertrophie oder auch die Dekonstruktion des heroischen ⟶Körperschemas (u. a. Jugendlichkeit vs. Alter), Personenkonstellationen, wie kontrastiv auf die Heldenfigur bezogene Bruder- oder Dienerrollen, oder Rollen, die durch geschlechtsspezifische Zuschreibungen und deren Subversion geprägt sind. Traditionelle Deheroisierungsstrategien in dieser Hinsicht wären z. B. – vor dem Hintergrund von traditionellen Bildern männlichen Heroismus – die Effeminierung des männlichen Helden, wie andererseits auch, oftmals in Abgrenzung von männlichen Helden, weibliche Figuren (z. B. durch die Zuschreibung ⟶christlicher Tugenden oder als christliche Kämpfer wie Jeanne d’Arc) heroisiert werden können.

Das Begriffspaar Heroisierung-Deheroisierung ruft sämtliche Spannungsfelder der von alters her geführten Debatte um die Frage der Mimesis, der nachahmenden Wiederholung, auf: die Frage nach der grundsätzlichen Möglichkeit von Nachahmung, ihrer (Un-)Zuverlässigkeit, ihres manipulativen Potentials, ihrer fiktiven und imaginären Anteile, ihrer fiktionalen Struktur, die gerade mit Blick auf den Helden relevante Frage nach einem Glanz, der sich als Abglanz erweisen könnte, – allesamt Aspekte, an denen Deheroisierungsprozesse einsetzen könnten.

5. Gesellschaftliche Aspekte

Die beschriebenen synchronen wie historischen Umbruchsmomente des Heroischen könnten vor dem Hintergrund der zuletzt v. a. am Beispiel der literarischen Darstellung des Helden aufgeworfenen grundsätzlichen Frage nach der Mimesis bzw. der Repräsentation auch mit Blick auf andere, z. B. soziologische Fragehorizonte gedeutet werden. So ist die Betrachtung der transgressiven Natur des Helden mit der Frage verknüpft, welcher Wertewandel sich im Zuge sukzessiver Deheroisierungs- und Heroisierungsprozesse beobachten lässt. Heldenkonkurrenzen können daraufhin befragt werden, inwieweit Prozesse gesellschaftlicher Ausdifferenzierung zu einer Multiplikation unterschiedlicher Heldenbilder geführt haben bzw. führen. Und beleuchtet man die im Spannungsfeld von individuellem vs. gruppenspezifischem Charakter des Heroischen zum Ausdruck kommende Differenz zwischen dem Helden als sozialer Figuration auf der einen und Figur (Körper) auf der anderen Seite, lassen sich weitere Aspekte von Deheroisierung diskutieren.

Die enge Verbindung von Deheroisierung mit dem unter umgekehrtem Vorzeichen ablaufenden analogen Prozess der Heroisierung weist am Ende dieser kursorischen Bemerkungen auf eine Form hin, bei der Deheroisierung als eine paradoxe Heroisierungsstrategie im Zeichen einer jenseits moralischer Kategorien angesiedelten Exzeptionalität erscheint.16Vgl. etwa die zugespitzte These Bernhard Giesens über Helden und Täter als liminale Figuren: „Der Täter ist ein Held ohne Gefolgschaft.“ – Giesen, Bernhard: „Zur Phänomenologie der Ausnahme: Helden, Täter, Opfer“. In: Giesen, Bernhard: Zwischenlagen. Das Außerordentliche als Grund der sozialen Wirklichkeit. Weilerswist 2010: Velbrück, 67-88, 80. Deheroisierung und Heroisierung konvergierten dann im Zeichen des Außerordentlichen. Als Beispiele hierfür können zuletzt literarische Figuren wie Don Juan, Typen wie der Pikaro, der Verbrecher im 19. und 20. Jahrhundert, etwa die sogenannten ,Social bandits‘17Vgl. Haller, Andreas: „‚That dirty little coward‘. Die Verkehrung des Heroischen in Ron Hansens The Assassination of Jesse James by the Coward Robert Ford [1983]“. In: helden. heroes. héros. E-Journal zu Kulturen des Heroischen 3.1 (2015), 63-79. DOI: 10.6094/helden.heroes.heros/2015/01/07., oder gar ⟶Alltagshelden der Gegenwart angeführt werden.

6. Einzelnachweise

  • 1
    Corneille, Pierre: Œuvres completes. Band 1. Paris 1980: Gallimard, 900.
  • 2
    Blanchot, Maurice: „Le Héros“. In: Nouvelle Revue Française 145 (1965), 90-104, 103.
  • 3
    Vgl. Marquart, Benjamin: „Deheroisierung im politischen Diskurs: Chateaubriands Auseinandersetzung mit Napoleon [1814–1821]“. In: helden. heroes. héros. E-Journal zu Kulturen des Heroischen 3.1 (2015), 142-144. DOI: 10.6094/helden.heroes.heros/2015/01/13.
  • 4
    Starobinski, Jean: „Sur Corneille“. In: Les Temps Modernes (1954): 713-729, 722.
  • 5
    Blanchot: „Le Héros“, 1965, 102.
  • 6
    Blanchot: „Le Héros“, 1965, 94.
  • 7
    Vgl. Marquart: „Deheroisierung im politischen Diskurs“, 2015.
  • 8
    Vgl. Bénichou, Paul: Morales du grand siècle. Paris 1948.
  • 9
    Voltaire: Œuvres complètes. Band 33. Paris 1877-1885: Garnier, 506; vgl. auch Willis, Jakob: „Deheroisierung in der Komödie: Molières Dom Juan ou le festin de pierre [1665/1682]“. In: helden. heroes. héros. E-Journal zu Kulturen des Heroischen 3.1 (2015), 140-141. DOI: 10.6094/helden.heroes.heros/2015/01/13.
  • 10
    Molière: Œuvres completes. Band 2. Paris 2010: Gallimard, 889; vgl. Willis: „Deheroisierung in der Komödie“, 2015.
  • 11
    Vgl. Helm, Katharina: „Deheroisierung durch Zerstörung: Das Reiterstandbild Philipps V. in Neapel [1705–1707]“. In: helden. heroes. héros. E-Journal zu Kulturen des Heroischen 3.1 (2015), 141-142. DOI: 10.6094/helden.heroes.heros/2015/01/13.
  • 12
    Vgl. Marquart: „Deheroisierung im politischen Diskurs“, 2015.
  • 13
    Vgl. Helm: „Deheroisierung durch Zerstörung“, 2015.
  • 14
    Vgl. Helm: „Deheroisierung durch Zerstörung“, 2015.
  • 15
    Vgl. Willis: „Deheroisierung in der Komödie“, 2015.
  • 16
    Vgl. etwa die zugespitzte These Bernhard Giesens über Helden und Täter als liminale Figuren: „Der Täter ist ein Held ohne Gefolgschaft.“ – Giesen, Bernhard: „Zur Phänomenologie der Ausnahme: Helden, Täter, Opfer“. In: Giesen, Bernhard: Zwischenlagen. Das Außerordentliche als Grund der sozialen Wirklichkeit. Weilerswist 2010: Velbrück, 67-88, 80.
  • 17
    Vgl. Haller, Andreas: „‚That dirty little coward‘. Die Verkehrung des Heroischen in Ron Hansens The Assassination of Jesse James by the Coward Robert Ford [1983]“. In: helden. heroes. héros. E-Journal zu Kulturen des Heroischen 3.1 (2015), 63-79. DOI: 10.6094/helden.heroes.heros/2015/01/07.

7. Ausgewählte Literatur

  • Blanchot, Maurice: „Le Héros“. In: Nouvelle Revue Française 145 (1965), 90-104.
  • Fleckner, Uwe: „Damnatio memoriae“. In: Fleckner, Uwe et al. (Hg.): Handbuch der politischen Ikonographie. Band 1: Abdankung bis Huldigung. München 2011: Beck, 208-215.
  • Fleckner, Uwe: „Aus dem Gedächtnis verbannt. Funktion und Ästhetik zerstörter Bildnisse“. In: Fleckner, Uwe et al. (Hg.): Der Sturm der Bilder. Zerstörte und zerstörende Kunst von der Antike bis in die Gegenwart. Berlin 2011: Akademie Verlag, 15-33.
  • Gelz, Andreas / Helm, Katharina / Hubert, Hans W. / Marquart, Benjamin / Willis, Jakob: „Phänomene der Deheroisierung in Vormoderne und Moderne“. In: helden. heroes. héros. E-Journal zu Kulturen des Heroischen 3.1 (2015), 135-149. DOI: 10.6094/helden.heroes.heros/2015/01/13.
  • Giesen, Bernhard: „Zur Phänomenologie der Ausnahme: Helden, Täter, Opfer“. In: Giesen, Bernhard: Zwischenlagen. Das Außerordentliche als Grund der sozialen Wirklichkeit. Weilerswist 2010: Velbrück, 67-88.
  • Le Gal, Sébastien: „Le dévoilement de la légitimité dans le premier XIXe siècle: manifester la royauté à l’ère du constitutionnalisme“. In: Hg. Becquet, Hélène / Frederking, Bettina (Hg.): La dignité de roi. Regards sur la royauté au premier XIXe siècle. Rennes 2009: Presses universitaires de Rennes, 49-76.
  • Levi, Anthony H. T.: „La disparition de l’héroïsme: étapes et motifs“. In: Hepp, Noemi / Livet, Georges (Hg.): Héroïsme et création littéraire sous les règnes d’Henri IV et de Louis XIII. Paris 1974: Klincksieck, 77-88.
  • Ritter, Henning: „Die Krise des Helden: der Ruhm und die großen Männer im Ancien Régime“. In: Warnke, Martin (Hg.): Politische Kunst: Gebärden und Gebaren. Berlin 2004: Akademie Verlag, 1-15.
  • Speitkamp, Winfried (Hg.): Denkmalsturz. Zur Konfliktgeschichte politischer Symbolik. Göttingen 1997: Vandenhoeck & Ruprecht.

Zitierweise

Andreas Gelz: Deheroisierung. In: Compendium heroicum. Hg. von Ronald G. Asch, Achim Aurnhammer, Georg Feitscher und Anna Schreurs-Morét, publiziert vom Sonderforschungsbereich 948 „Helden – Heroisierungen – Heroismen“ der Universität Freiburg, Freiburg 4. März 2019. DOI: 10.6094/heroicum/dehd1.0