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Grenzüberschreitung

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1. Einleitung

Heldinnen und Helden sind Grenzgänger. Sie überschreiten Grenzen, ziehen dadurch die Aufmerksamkeit auf sich und provozieren eine gesellschaftliche Reaktion. Genau genommen können sie beim Akt der Grenzüberschreitung noch nicht als ⟶Helden bezeichnet werden, weil sie erst durch einen Prozess, der mit der Transgression beginnt, zu solchen gemacht werden. In dem hier gewählten Zugang steht somit nicht der ‚fertige‘ Held mit seinen heroischen Attributen im Fokus. Vielmehr werden die verschiedenen ⟶Konstitutionsprozesse untersucht, die am Zustandekommen des Helden und seiner Eigenschaften beteiligt sind.1Vgl. dazu einleitend Schlechtriemen, Tobias: „Konstitutionsprozesse heroischer Figuren“. In: Asch, Ronald G. / Aurnhammer, Achim / Feitscher, Georg / Schreurs-Morét, Anna (Hg.): Compendium heroicum, Freiburg 07.06.2018. DOI: 10.6094/heroicum/konstitutionsprozesse. Am (vorläufigen) Ende des Heroisierungsprozesses erscheint die heroische Figur mit ihrer Eigenschaft der Autonomie oder Transgressivität. In diesem Sinn wird im Folgenden der Prozess der Grenzüberschreitung und damit eine von mehreren Formen des boundary work, die ⟶Heroisierungen auszeichnen, analysiert.2Vgl. Schlechtriemen: „Konstitutionsprozesse heroischer Figuren“, 2018.

2. Grenzüberschreitung – zur Konstitution heroischer Transgressivität

Für Grenzüberschreitungen braucht es zunächst einmal Grenzen, die dann überschritten werden können. Betrachtet man die Herausbildung von Grenzen genauer, wird allerdings deutlich, dass diese ihrerseits auch erst durch die Überschreitung konstituiert werden.3Darauf hat Michel Foucault hingewiesen: „Die Grenze und die Überschreitung verdanken einander die Dichte ihres Seins: eine Grenze, die nicht überschritten werden könnte, wäre nicht existent; eine Überschreitung, die keine wirkliche Grenze überträte, wäre nur Einbildung. Hat denn die Grenze eine wahrhafte Existenz außerhalb der Geste, die sie souverän überschreitet und negiert?“ (Foucault, Michel: „Vorrede zur Überschreitung“. In: Foucault, Michel: Von der Subversion des Wissens. Frankfurt a. M. 1996: Fischer, 28-45). In jedem gesellschaftlichen Kontext findet man jedoch Erwartungen, Normen und Gesetze – und somit Grenzen – vor. Sie regeln, welches Verhalten als üblich, normal oder rechtens wahrgenommen wird. Dieser Rahmen ändert sich zwar historisch, aber für die jeweilige Gegenwartsgesellschaft ist er klar definiert.4Zu den verschiedenen Formen von Grenzziehung in der Sozialwelt vgl. Lindemann, Gesa: „Gesellschaftliche Grenzregime und soziale Differenzierung“. In: Zeitschrift für Soziologie 38.2 (2009), 94-112. Thomas Nail unterscheidet im Rahmen seiner Theory of the Border zwischen mark, limit, boundary und frontier (Nail, Thomas: Theory of the Border. Oxford 2016: Oxford University Press, 35-43). Es ist festgelegt, was im normativen Sinne erlaubt und rechtens ist und was nicht. Zudem existieren Erwartungen dazu, was Menschen ‚normalerweise‘ zu leisten im Stande sind und Vorstellungen darüber, was moralisch als gut und was als Abweichung gilt.5Zu den ‚Wahrheitsszenen‘ normativer und moralischer Diskurse sowie der Differenz zwischen Normbrüchen, die sich verhandeln und ‚reparieren‘ lassen, und moralischen Abweichungen, bei denen das nicht möglich ist, vgl. Langenohl, Andreas: „Norm und Wahrheit. Soziologische Merkmale von Wahrheitsszenen“. In: Zeitschrift für Kulturphilosophie 2 (2014), 235-245. Kommt es zu einer Überschreitung der gesellschaftlichen Grenzen, stellt dies ein unerwartetes Ereignis dar, welches die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich zieht.6Die Neuheit macht Markus Schroer als ein Merkmal dessen aus, was Aufmerksamkeit zu generieren imstande ist (vgl. Schroer, Markus: Soziologie der Aufmerksamkeit. Grundlegende Überlegungen zu einem Theorieprogramm. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 66 (2014), 193-218, 196-198). Eva Horn, Stefan Kaufmann und Ulrich Bröckling verweisen zu Recht darauf, dass die geografisch verortete Staatsgrenze die wesentliche Referenz für den eher metaphorischen Gebrauch des Grenz-Konzepts darstellt (vgl. Kaufmann, Stefan / Bröckling, Ulrich / Horn, Eva: „Einleitung“. In: Dies. (Hg.): Grenzverletzer. Von Schmugglern, Spionen und anderen subversiven Gestalten. Berlin 2002: Kadmos, 7-22). In dem dazugehörigen Band werden zudem vielfältige Grenzfiguren besprochen. Hier zeigt sich die Relationalität des Geschehens. Denn was vor dem Hintergrund der Grenzziehungen der einen Gesellschaft als völlig normal gilt, wird in einem anderen sozialen Kontext mit anders gelagerten Limitierungen als Transgression gesehen.

Ein Beispiel für eine solche Grenzüberschreitung ist die Entscheidung, die Chesley B. Sullenberger am 15. Januar 2009 traf.7Amy L. Fraher verwendet ebenfalls dieses Beispiel, allerdings um aus psychodynamischer Perspektive zu erklären, warum hier auf den ‚Großer-Mann-Heldenmythos‘ zurückgegriffen und das Teamwork der Crew an Bord ausgeblendet wird. Vgl. Fraher, Amy L.: „Hero-making as a Defense against the Anxiety of Responsibility and Risk: A Case Study of US Airways Flight 1549“. In: Organisational & Social Dynamics 11.1 (2011), 59-78. Er war an diesem Tag Flugkapitän des US Airways-Fluges, der um 15.26 Uhr mit 150 Passagieren am New Yorker Flughafen LaGuardia startete. Kurz nach dem Start führte ein heftiger Vogelschlag zum Ausfall beider Triebwerke. Sofort war klar, dass das Flugzeug innerhalb kürzester Zeit notlanden musste. Entsprechend schnell hatte Sullenberger zu entscheiden. Er ging dabei nicht auf die Instruktionen des Towers ein, der zunächst eine Rückkehr zu LaGuardia und schließlich eine Landung auf dem nahegelegenen Flughafen Teterboro (New Jersey) vorschlug. Stattdessen entschied sich Sullenberger für eine Notwasserung auf dem Hudson River. Eine solche Notwasserung war weder in den Emergency Checklists vorgesehen noch bei den Flugsimulationen geübt worden – zudem waren die Statistiken zu den Erfolgschancen verheerend. Ob Sullenberger mit seiner Entscheidung daher rechtlich gegen die Vorschriften verstoßen hatte, wurde in der Folge Gegenstand langjähriger Verhandlungen, die letztlich zu seinen Gunsten entschieden wurden.8Vgl. den Bericht des National Transportation Safety Board: Accident Report. NTSB/AAR-10/03, PB2010-910403, 2010. Online unter: https://www.ntsb.gov/investigations/AccidentReports/Reports/AAR1003.pdf (Zugriff am 10.05.2019). Ungeachtet dessen hatte er definitiv die Grenze davon überschritten, was vorgesehen und erwartbar war – auch in einer solchen Ausnahmesituation. Es war folglich offen, wie diese Grenzüberschreitung gesellschaftlich bewertet werden würde.

US-Airways-Flug 1549 im Hudson River
Photo of the ditched US Airways Flight 1549 in the Hudson River
Photo of the ditched US Airways Flight 1549 in the Hudson River
Foto des notgewasserten US-Airways-Fluges 1549 im Hudson River
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Foto des notgewasserten US-Airways-Fluges 1549 im Hudson River

Der Ausgang der Geschichte ist bekannt: Sullenberger und seinem Team (er handelte nicht allein und es ist ein weiteres Merkmal von Heroisierungsprozessen, dass die ⟶Handlungsmacht auf eine Figur im Zentrum konzentriert, die Agency aller anderen Beteiligten demgegenüber ausgeblendet wird) glückte eine Landung auf dem Hudson River – zwischen den Fähren, der George Washington Bridge und keine drei Kilometer vom Times Square in Manhattan entfernt. Alle Passagiere konnten das Flugzeug über die Notausgänge verlassen. Die Bilder dieser schwimmenden Insel mit den Geretteten auf den Tragflächen sind ikonisch geworden (vgl. Abb. 1).

Bereits Sekunden nach der Notwasserung begann die Herausbildung der Heldengeschichten. Dazu gehörte zunächst, dass das Ereignis medial ‚verarbeitet‘ wurde. Janis Krums twitterte von einer der Fähren, die zum im Fluss treibenden Flugzeug fuhr: „There‘s a plane in the Hudson. I’m on the ferry going to pick up the people. Crazy.“9Es handelt sich um die erste Twitter-Nachricht, die in kürzester Zeit weltweit geteilt wurde und somit auch Twitter bekannter machte. Das mitgesendete Foto findet sich unter http://twitpic.com/135xa (Zugriff am 10.05.2019). Interessant ist hier die wechselseitige Promotion der heroischen Figur (Sullenberger) und des spezifischen Mediums (Twitter). Mit dem den vorangehenden Inhalt kommentierenden Ende des Tweets „Crazy“ wird noch keine Bewertung vorgenommen, sondern erst einmal die Ausnahmesituation bezeichnet. Viele Fernsehsender schalteten auf Breaking News um und sendeten Live-Bilder. Überwachungskameras hatten die Notlandung aufgezeichnet, aber auch Augenzeugen berichteten und verbreiteten ihre Fotos. In diesen medialen Darstellungen bildete sich das heroische Narrativ schnell heraus. Der Gouverneur des Bundesstaates New York sprach noch an der Unfallstelle von ‚heroischen Taten‘ und einem Wunder: „We’ve had a miracle on 34th Street before. I believe now we’ve had a miracle on the Hudson.“10Berichtet Quinn, James: „New York plane crash: ‚Miracle on the Hudson‘ as 155 passengers survive“. In: The Telegraph, 16. Januar 2009. David Paterson variiert damit den Titel des Films „Miracle on 34th Street“, einen US-amerikanischen Weihnachtsfilm von George Seaton aus dem Jahr 1947, der 1994 neu verfilmt wurde. Damit ist dies ein schönes Beispiel dafür, wie im Heroisierungsprozess ältere (Helden-)Geschichten (Präfigurate) aufgegriffen und aktualisiert werden. Kurz darauf gratulierte nicht nur der New Yorker Bürgermeister Michael Bloomberg Sullenberger und überreichte ihm den Schlüssel der Stadt, auch der noch amtierende amerikanische Präsident George W. Bush bedankte sich telefonisch bei ihm.11Sein Nachfolger, Barack Obama, lud Sullenberger und seine Crew am 20. Januar zur Amtseinführung ein. Die Daily News zeigte auf ihrer Titelseite das notgelandete Flugzeug mit einem Porträtfoto von Sullenberger (vgl. Abb. 2). Die fotografische Darstellung war mit „HERO OF THE HUDSON“ betitelt und im Untertitel wurde der „Special report on miracle of flight 1549“ angekündigt. Lange bevor juristisch entschieden wurde, hatte die Gesellschaft also ihr Urteil gefällt: „Sully“ – so wurde der Pilot nun meist genannt – war ein Held. Als solcher wurde er in zahlreichen Talkshows interviewt, vielfach öffentlich geehrt und seine Heldentat wurde 2016 von Clint Eastwood als Regisseur und mit Tom Hanks in der Hauptrolle verfilmt.12Sully. Clint Eastwood. Warner Bros., 2016.

Titelblatt der Daily News
Titelblatt der Daily News, Freitag, 16. Januar 2009, New York
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urheberrechtlich geschütztes Bild; Zitat nach § 51 UrhG

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New York Daily News

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Die gesellschaftlichen Zuschreibungen verliehen der historischen Person Chesley B. Sullenberger einen quasi-fiktiven Charakter. Auf diese Weise entsteht im Heroisierungsprozess ein idealisiertes Bild des Helden oder der Heldin.13Orrin E. Klapp weist auf die verschiedenen Phasen der Heroisierung hin, zu denen er auch „the building up of an idealized image or legend of the hero“ zählt (Klapp, Orrin E.: „Hero Worship in America“. In: American Sociological Review 14.1 (1949), 53-62, 54). Zur Idealisierung gehört allerdings auch die Möglichkeit, dass die historische Person den an sie herangetragenen Erwartungen nicht gerecht werden kann (vgl. Klapp: „Hero Worship in America“, 1949, 60). Dabei wird die Person idealisiert und somit aus ihrem direkten sozialen Kontext gelöst und literarisiert. „What is interesting is the way in which the image of the hero is taken out of its context, and woven into a heroic life in which the social context becomes played down, or becomes one in which the hero distinguishes himself from and rises above the social.“14Featherstone, Mike: „The Heroic Life and Everyday Life“. In: Theory, Culture and Society 9 (1992), 159-182, 168. Entsprechend weisen die Berichte über Sully in ihrer Dynamik und Struktur deutliche Ähnlichkeiten mit fiktiven Heldenerzählungen auf. Ob ein historisches Ereignis den Ausgangspunkt bildet oder es sich um eine rein fiktive Geschichte handelt, macht für die gesellschaftliche Wahrnehmung und wissenschaftliche Rahmung einen erheblichen Unterschied.15Zu den Indikatoren, die fiktionale von faktualen Texten – hier bezogen auf das Genre der Biografie – unterscheiden vgl. Nünning, Ansgar: „Fiktionalität, Faktizität, Metafiktion“. In: Klein, Christian (Hg.): Handbuch Biographie. Methoden, Traditionen, Theorien. Stuttgart 2009: J.B. Metzler Verlag, 21-27, 25f. Aber im Hinblick auf die Weise, wie die Heldengeschichte erzählt wird und wie das boundary work darin funktioniert, gibt es viele Gemeinsamkeiten.16Frisk, Kristian: „What Makes a Hero? Theorising the Social Structuring of Heroism”. In: Sociology 53.1 (2018), 1-17, 6-7. Insofern können zur Untersuchung der gesellschaftlich-medialen Kommunikationsformen auch literaturwissenschaftliche Analyseinstrumente eingesetzt werden. Dennoch bleibt festzuhalten, dass es im realen Heroisierungsprozess eine komplexe Ausgangssituation mit vielen beteiligten Akteuren gibt – aber noch ohne Helden – sowie einen im Hinblick auf seine Bewertung offenen Kippmoment.

Die Grenzüberschreitung wird retrospektiv im Rahmen der Heldenerzählung repräsentiert und lässt sich dann mit Juri Lotman analysieren. Ihm zufolge weist die Welt der Heldengeschichten immer eine zentrale Grenzziehung auf, ist „in zwei sich ergänzende Teilmengen“ getrennt.17Lotman, Jurij M.: Die Struktur literarischer Texte. München 1972: Fink, 341. Es bestehen zwei Seiten, ein Bereich der Normalsterblichen und ein Jenseits, das von gewöhnlichen Menschen nicht betreten werden kann. Der Protagonist zeichnet sich nun gerade dadurch aus, dass er diese Grenze, die für alle anderen verbindlich ist und als unüberschreitbar gilt, überschreitet.18Wenn man die anderen Figuren der Erzählung betrachtet, wird es des Öfteren Begleitfiguren geben, welche die Grenzüberschreitung nicht bewältigen. Zur narrativen Ausgestaltung gehört die Schilderung der schieren Unüberwindbarkeit der Grenze, denn an der Größe der Herausforderung bemisst sich die Größe der Heldentat. Gerade im Kontrast zu den Normalen zeigt sich die Außerordentlichkeit heroischen Handelns. „In Beziehung zur Grenze des (semantischen) Sujet-Feldes tritt der Handlungsträger als derjenige auf, der sie überwindet, und die Grenze in Beziehung zu ihm als Hindernis.“19Lotmann: „Die Struktur literarischer Texte“, 1972, 342. Durch den Akt der Grenzüberschreitung wird die heroische Figur als solche eigentlich erst konstituiert.20Auch Bernhard Giesen begreift Helden (neben Tätern und Opfern) als Grenzfiguren „Imaginationen und Projektionen einer Gemeinschaft, die über die Grenze in das Dunkel schaut und ihre Beunruhigung durch Geschichten und Bilder der unheimlichen Welt jenseits der Grenze stillzustellen sucht.“ (Giesen, Bernhard: „Zur Phänomenologie der Ausnahme: Helden, Täter, Opfer“. In: Giesen, Bernhard:: Zwischenlagen. Das Außerordentliche als Grund der sozialen Wirklichkeit. Weilerswist 2010: Velbrück, 67-87, 86). Hier zeigt sich sehr deutlich der Prozesscharakter der Heroisierung. Denn es ist die Aktion des Übertritts, der die übertretende Figur verändert und ihr heroische Eigenschaften verleiht.21„Nach der Überwindung der Grenze tritt der Handlungsträger in das ‚Gegenfeld‘ ein.“ (Lotmann: „Die Struktur literarischer Texte“, 1972, 342.) Im Sinne der Heldenreise, wie sie Vladimir J. Propp und Joseph Campbell beschreiben, handelt es sich um die Fremde, in der sich der Held beweisen muss, ehe er verändert in die Heimat zurückkehrt.

Die Grenzüberschreitung bildet immer die Ausnahme. Wäre sie der Regelfall, gäbe es die entsprechende Grenze nicht.22Gleichzeitig werden soziale Gesetze durch die Überschreitung auch nicht unmittelbar in Frage gestellt, wie das bei Naturgesetzen der Fall wäre (vgl. Langenohl, Andreas: „Norm und Wahrheit. Soziologische Merkmale von Wahrheitsszenen“. In: Zeitschrift für Kulturphilosophie 2 (2014), 235-245, 237). Aufgrund ihres Ereignis- und Ausnahmecharakters und weil die Überschreitung die bestehenden Grenzen in Frage stellt, provoziert sie eine gesellschaftliche Reaktion bzw. generiert erzählerische Spannung. Handelt es sich um ein reales Ereignis, muss die Gesellschaft sich zu der Grenzüberschreitung verhalten, gerade weil das transgressive Handeln die gesellschaftliche Normalität und Normativität herausfordert. In unserem Beispiel ist es das Flugzeug auf Irrwegen über New York – zumal nach den Anschlägen des 11. September 2001 –, welches sein Element – die Luft – verlässt und auf Wasser landet. Mitunter gilt es aber auch für die gesellschaftliche Rezeption fiktiver Erzählungen: Die spezifische Form von Heldendarstellungen, ihre menschliche – und meist männliche23Frisk: „What Makes a Hero?”, 2018, 11. – Personalisierung, die Konzentration der Handlungsmacht auf eine Zentralfigur, ihr Bezug zum Numinosen24Dieser Bezug artikuliert sich etwa in einem Glanz, dem éclat des Helden. Vgl. dazu Willis, Jakob: Glanz und Blendung. Zur Ästhetik des Heroischen im Drama des Siècle classique. Bielefeld 2017: transcript; sowie Gelz, Andreas: „Der Glanz des Helden – Darstellungsformen des Heroischen in der französischen Literatur vom 17.–19. Jahrhundert“. In: französisch heute 49.2 (2018), 5-13. sowie ihr polarisiertes Setting evozieren stark affizierende Wirkungen. Entsprechend sind Grenzüberschreitungen bewegende Ereignisse, aus denen die Gesellschaft mehr oder weniger verändert hervorgeht.25Das Zusammenspiel von affektiver Wirkung und der Herausbildung neuer Formen des Sozialen thematisieren etwa Stäheli, Urs: „Infrastrukturen des Kollektiven: alte Medien – neue Kollektive?“. In: Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung 2 (2012), 99-116 und Slaby Jan / Mühlhoff, Rainer / Wüschner, Philipp: „Affective Arrangements“. In: Emotion Review 11.1 (2017), 1-10. Auf die Grenze selbst kann sich die Überschreitung als Stabilisierung, aber auch als Verschiebung oder Entgrenzung auswirken. Heroisierungen können dabei sowohl der Ausgangspunkt gesellschaftlicher Umbrüche sein als auch der Stabilisierung bestehender Ordnungen dienen.

Auf die Grenzüberschreitung folgt ein Kippmoment, in dem der Gesetzesübertritt entweder heroisiert oder dämonisiert wird. Interessant ist, dass es nur diese beiden einander diametral gegenüberstehenden Reaktionsmöglichkeiten gibt – gleichgültig reagieren die Beteiligten in der Regel nicht.26Es ist vorstellbar, dass sich die Aushandlung der gesellschaftlichen Reaktion auf die Grenzüberschreitung nicht relativ schnell – wie im angeführten Beispiel –, sondern in einem langwierigeren Prozess erst herausbildet. Darin liegen die Grenzen der hier vorgeschlagenen Heuristik: Sie suggeriert, dass es sich um einen Kippmoment handelt – manchmal ist es aber ein längerer Zeitraum – und dass mit der Heroisierung alle ‚dämonischen‘ Aspekte aufgelöst würden. Das bedeutet nicht, dass die heroisierte Figur dann völlig ‚bereinigt‘ würde. Oftmals halten sich Ambivalenzen und negative Eigenschaften, die mitunter zur ⟶Attraktivität der bewunderten Figur beitragen. Sullenbergers Grenzüberschreitung wurde weitestgehend positiv, als ‚heroisch‘, bewertet, wie oben gezeigt. Aber für die Luftfahrtregelungen und entsprechende Schulungen künftiger Pilotinnen und Piloten war diese Bewertung durchaus eine Herausforderung. Schließlich sollte das abweichende Verhalten hier nicht als Vorbild fungieren und zur Regel werden. Man kann sich zudem vorstellen, wie die gesellschaftliche Bewertung ausgesehen hätte, wenn die Notwasserung nicht geglückt wäre.

Durch die Analyse ist deutlich geworden, dass es erst einmal offen ist, wie die Transgression gesellschaftlich bewertet wird. Diese Offenheit wird in der Heldengeschichte, die sich im Laufe des Prozesses herausbildet, verdeckt. Im Rahmen des Heldennarrativs wird in aller Regel die spätere Heldenfigur von Anfang an so dargestellt, dass sich etwa bereits in der Kindheit der heroische Charakter abgezeichnet hätte. Wenn man aber den Heroisierungsprozess in seinen verschiedenen Phasen analysiert, zeigt sich die Offenheit der Bewertung unmittelbar nach der Grenzüberschreitung. Dann stellen sich auch erst die Fragen danach, auf welche Weise sich die Heldengeschichte medial herausgebildet hat und welche unterschiedlichen Rechtfertigungsordnungen bei der gesellschaftlichen Bewertung eine Rolle spielten. Außerdem kann man nach den die Person betreffenden Faktoren fragen, welche die Heroisierbarkeit der Transgression wahrscheinlicher machen, wie etwa, dass die trangressive Tat aus freiem Willen und nicht aus Zwang geschah, dass dabei ein persönliches Risiko in Kauf genommen wurde, dass der Ausgang offen war.27Für diese und weitere hilfreiche Anregungen danke ich Georg Feitscher und der Verbundarbeitsgruppe „Synthesen“ des SFB 948. Interessant ist dabei, dass sowohl das Scheitern (als tragischer Held) wie auch der Erfolg (triumphaler Held) heroisiert werden können.28Giesen, Bernhard: Triumph and Trauma. Boulder, CO 2004: Paradigm Publishers.

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass es im Verlauf des Heroisierungsprozesses zunächst eine Grenzüberschreitung durch eine Person gibt, auf die ein Kippmoment folgt, in dem offen ist, wie das betreffende gesellschaftliche Umfeld darauf reagieren wird (fest steht nur, dass es kein ‚business as usual‘ als Reaktion geben kann). Im Fall der positiven Bewertung bilden sich ein Heldennarrativ sowie andere mediale Heldendarstellungen heraus (siehe Abb. 3). Der heroischen Figur wird im Zuge dieses Prozesses die Eigenschaft der Autonomie und Transgressivität zugesprochen.

Darstellung des Grenzüberschreitungsprozesses
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eigene Grafik von Tobias Schlechtriemen

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Quelle: eigene Grafik von Tobias Schlechtriemen

3. Einzelnachweise

  • 1
    Vgl. dazu einleitend Schlechtriemen, Tobias: „Konstitutionsprozesse heroischer Figuren“. In: Asch, Ronald G. / Aurnhammer, Achim / Feitscher, Georg / Schreurs-Morét, Anna (Hg.): Compendium heroicum, Freiburg 07.06.2018. DOI: 10.6094/heroicum/konstitutionsprozesse.
  • 2
    Vgl. Schlechtriemen: „Konstitutionsprozesse heroischer Figuren“, 2018.
  • 3
    Darauf hat Michel Foucault hingewiesen: „Die Grenze und die Überschreitung verdanken einander die Dichte ihres Seins: eine Grenze, die nicht überschritten werden könnte, wäre nicht existent; eine Überschreitung, die keine wirkliche Grenze überträte, wäre nur Einbildung. Hat denn die Grenze eine wahrhafte Existenz außerhalb der Geste, die sie souverän überschreitet und negiert?“ (Foucault, Michel: „Vorrede zur Überschreitung“. In: Foucault, Michel: Von der Subversion des Wissens. Frankfurt a. M. 1996: Fischer, 28-45).
  • 4
    Zu den verschiedenen Formen von Grenzziehung in der Sozialwelt vgl. Lindemann, Gesa: „Gesellschaftliche Grenzregime und soziale Differenzierung“. In: Zeitschrift für Soziologie 38.2 (2009), 94-112. Thomas Nail unterscheidet im Rahmen seiner Theory of the Border zwischen mark, limit, boundary und frontier (Nail, Thomas: Theory of the Border. Oxford 2016: Oxford University Press, 35-43).
  • 5
    Zu den ‚Wahrheitsszenen‘ normativer und moralischer Diskurse sowie der Differenz zwischen Normbrüchen, die sich verhandeln und ‚reparieren‘ lassen, und moralischen Abweichungen, bei denen das nicht möglich ist, vgl. Langenohl, Andreas: „Norm und Wahrheit. Soziologische Merkmale von Wahrheitsszenen“. In: Zeitschrift für Kulturphilosophie 2 (2014), 235-245.
  • 6
    Die Neuheit macht Markus Schroer als ein Merkmal dessen aus, was Aufmerksamkeit zu generieren imstande ist (vgl. Schroer, Markus: Soziologie der Aufmerksamkeit. Grundlegende Überlegungen zu einem Theorieprogramm. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 66 (2014), 193-218, 196-198). Eva Horn, Stefan Kaufmann und Ulrich Bröckling verweisen zu Recht darauf, dass die geografisch verortete Staatsgrenze die wesentliche Referenz für den eher metaphorischen Gebrauch des Grenz-Konzepts darstellt (vgl. Kaufmann, Stefan / Bröckling, Ulrich / Horn, Eva: „Einleitung“. In: Dies. (Hg.): Grenzverletzer. Von Schmugglern, Spionen und anderen subversiven Gestalten. Berlin 2002: Kadmos, 7-22). In dem dazugehörigen Band werden zudem vielfältige Grenzfiguren besprochen.
  • 7
    Amy L. Fraher verwendet ebenfalls dieses Beispiel, allerdings um aus psychodynamischer Perspektive zu erklären, warum hier auf den ‚Großer-Mann-Heldenmythos‘ zurückgegriffen und das Teamwork der Crew an Bord ausgeblendet wird. Vgl. Fraher, Amy L.: „Hero-making as a Defense against the Anxiety of Responsibility and Risk: A Case Study of US Airways Flight 1549“. In: Organisational & Social Dynamics 11.1 (2011), 59-78.
  • 8
    Vgl. den Bericht des National Transportation Safety Board: Accident Report. NTSB/AAR-10/03, PB2010-910403, 2010. Online unter: https://www.ntsb.gov/investigations/AccidentReports/Reports/AAR1003.pdf (Zugriff am 10.05.2019).
  • 9
    Es handelt sich um die erste Twitter-Nachricht, die in kürzester Zeit weltweit geteilt wurde und somit auch Twitter bekannter machte. Das mitgesendete Foto findet sich unter http://twitpic.com/135xa (Zugriff am 10.05.2019). Interessant ist hier die wechselseitige Promotion der heroischen Figur (Sullenberger) und des spezifischen Mediums (Twitter). Mit dem den vorangehenden Inhalt kommentierenden Ende des Tweets „Crazy“ wird noch keine Bewertung vorgenommen, sondern erst einmal die Ausnahmesituation bezeichnet.
  • 10
    Berichtet Quinn, James: „New York plane crash: ‚Miracle on the Hudson‘ as 155 passengers survive“. In: The Telegraph, 16. Januar 2009. David Paterson variiert damit den Titel des Films „Miracle on 34th Street“, einen US-amerikanischen Weihnachtsfilm von George Seaton aus dem Jahr 1947, der 1994 neu verfilmt wurde. Damit ist dies ein schönes Beispiel dafür, wie im Heroisierungsprozess ältere (Helden-)Geschichten (Präfigurate) aufgegriffen und aktualisiert werden.
  • 11
    Sein Nachfolger, Barack Obama, lud Sullenberger und seine Crew am 20. Januar zur Amtseinführung ein.
  • 12
    Sully. Clint Eastwood. Warner Bros., 2016.
  • 13
    Orrin E. Klapp weist auf die verschiedenen Phasen der Heroisierung hin, zu denen er auch „the building up of an idealized image or legend of the hero“ zählt (Klapp, Orrin E.: „Hero Worship in America“. In: American Sociological Review 14.1 (1949), 53-62, 54). Zur Idealisierung gehört allerdings auch die Möglichkeit, dass die historische Person den an sie herangetragenen Erwartungen nicht gerecht werden kann (vgl. Klapp: „Hero Worship in America“, 1949, 60).
  • 14
    Featherstone, Mike: „The Heroic Life and Everyday Life“. In: Theory, Culture and Society 9 (1992), 159-182, 168.
  • 15
    Zu den Indikatoren, die fiktionale von faktualen Texten – hier bezogen auf das Genre der Biografie – unterscheiden vgl. Nünning, Ansgar: „Fiktionalität, Faktizität, Metafiktion“. In: Klein, Christian (Hg.): Handbuch Biographie. Methoden, Traditionen, Theorien. Stuttgart 2009: J.B. Metzler Verlag, 21-27, 25f.
  • 16
    Frisk, Kristian: „What Makes a Hero? Theorising the Social Structuring of Heroism”. In: Sociology 53.1 (2018), 1-17, 6-7.
  • 17
    Lotman, Jurij M.: Die Struktur literarischer Texte. München 1972: Fink, 341.
  • 18
    Wenn man die anderen Figuren der Erzählung betrachtet, wird es des Öfteren Begleitfiguren geben, welche die Grenzüberschreitung nicht bewältigen. Zur narrativen Ausgestaltung gehört die Schilderung der schieren Unüberwindbarkeit der Grenze, denn an der Größe der Herausforderung bemisst sich die Größe der Heldentat. Gerade im Kontrast zu den Normalen zeigt sich die Außerordentlichkeit heroischen Handelns.
  • 19
    Lotmann: „Die Struktur literarischer Texte“, 1972, 342.
  • 20
    Auch Bernhard Giesen begreift Helden (neben Tätern und Opfern) als Grenzfiguren „Imaginationen und Projektionen einer Gemeinschaft, die über die Grenze in das Dunkel schaut und ihre Beunruhigung durch Geschichten und Bilder der unheimlichen Welt jenseits der Grenze stillzustellen sucht.“ (Giesen, Bernhard: „Zur Phänomenologie der Ausnahme: Helden, Täter, Opfer“. In: Giesen, Bernhard:: Zwischenlagen. Das Außerordentliche als Grund der sozialen Wirklichkeit. Weilerswist 2010: Velbrück, 67-87, 86).
  • 21
    „Nach der Überwindung der Grenze tritt der Handlungsträger in das ‚Gegenfeld‘ ein.“ (Lotmann: „Die Struktur literarischer Texte“, 1972, 342.) Im Sinne der Heldenreise, wie sie Vladimir J. Propp und Joseph Campbell beschreiben, handelt es sich um die Fremde, in der sich der Held beweisen muss, ehe er verändert in die Heimat zurückkehrt.
  • 22
    Gleichzeitig werden soziale Gesetze durch die Überschreitung auch nicht unmittelbar in Frage gestellt, wie das bei Naturgesetzen der Fall wäre (vgl. Langenohl, Andreas: „Norm und Wahrheit. Soziologische Merkmale von Wahrheitsszenen“. In: Zeitschrift für Kulturphilosophie 2 (2014), 235-245, 237).
  • 23
    Frisk: „What Makes a Hero?”, 2018, 11.
  • 24
    Dieser Bezug artikuliert sich etwa in einem Glanz, dem éclat des Helden. Vgl. dazu Willis, Jakob: Glanz und Blendung. Zur Ästhetik des Heroischen im Drama des Siècle classique. Bielefeld 2017: transcript; sowie Gelz, Andreas: „Der Glanz des Helden – Darstellungsformen des Heroischen in der französischen Literatur vom 17.–19. Jahrhundert“. In: französisch heute 49.2 (2018), 5-13.
  • 25
    Das Zusammenspiel von affektiver Wirkung und der Herausbildung neuer Formen des Sozialen thematisieren etwa Stäheli, Urs: „Infrastrukturen des Kollektiven: alte Medien – neue Kollektive?“. In: Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung 2 (2012), 99-116 und Slaby Jan / Mühlhoff, Rainer / Wüschner, Philipp: „Affective Arrangements“. In: Emotion Review 11.1 (2017), 1-10. Auf die Grenze selbst kann sich die Überschreitung als Stabilisierung, aber auch als Verschiebung oder Entgrenzung auswirken.
  • 26
    Es ist vorstellbar, dass sich die Aushandlung der gesellschaftlichen Reaktion auf die Grenzüberschreitung nicht relativ schnell – wie im angeführten Beispiel –, sondern in einem langwierigeren Prozess erst herausbildet. Darin liegen die Grenzen der hier vorgeschlagenen Heuristik: Sie suggeriert, dass es sich um einen Kippmoment handelt – manchmal ist es aber ein längerer Zeitraum – und dass mit der Heroisierung alle ‚dämonischen‘ Aspekte aufgelöst würden.
  • 27
    Für diese und weitere hilfreiche Anregungen danke ich Georg Feitscher und der Verbundarbeitsgruppe „Synthesen“ des SFB 948.
  • 28
    Giesen, Bernhard: Triumph and Trauma. Boulder, CO 2004: Paradigm Publishers.

4. Ausgewählte Literatur

  • Featherstone, Mike: „The Heroic Life and Everyday Life“. In: Theory, Culture and Society 9 (1992), 159-182.
  • Foucault, Michel: „Vorrede zur Überschreitung“. In: Foucault, Michel: Von der Subversion des Wissens. Frankfurt a. M. 1996: Fischer, 28-45.
  • Fraher, Amy L.: „Hero-making as a Defense against the Anxiety of Responsibility and Risk: A Case Study of US Airways Flight 1549“. In: Organisational & Social Dynamics 11.1 (2011), 59-78.
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5. Abbildungsnachweise

Zitierweise

Tobias Schlechtriemen: Grenzüberschreitung. In: Compendium heroicum. Hg. von Ronald G. Asch, Achim Aurnhammer, Georg Feitscher und Anna Schreurs-Morét, publiziert vom Sonderforschungsbereich 948 „Helden – Heroisierungen – Heroismen“ der Universität Freiburg, Freiburg 13. August 2019. DOI: 10.6094/heroicum/gd1.0.20190813