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Zeitstrukturen des Heroischen

  • Version 1.0
  • publiziert am 18. Januar 2021

1. Einleitung

Helden und Heldinnen, Heroisierungen und Heroismen sind weder zeitlos noch allein aus ihrer Gegenwart heraus erklärbar. Der Bezug auf Vergangenes und häufig auch auf die Zukunft ist für das Heroische konstitutiv – es handelt sich um ein temporales Phänomen. Die Untersuchung ⟶heroischer Figuren, von ⟶Heroisierungen und ⟶Heroismen muss daher auch jene Zeitstrukturen erfassen, die für das Heroische typisch sind und es gegenüber anderen sozialen und kulturellen Phänomenen auszeichnen. Grundsätzlich lassen sich drei Zeitstrukturen identifizieren, die das Heroische in besonderer Weise charakterisieren:

Erstens handelt sich beim Heroischen um ein persistentes Phänomen der longue durée. Die Existenz des Heroischen sowie von heroischen Verhaltensidealen stand seit der Antike zumindest bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts in Europa offenbar nie grundsätzlich infrage.

Zweitens benötigen die zugrundeliegenden Heroismen und ⟶Heroisierungsprozesse stets den Bezug auf Vergangenes, auf Traditionen und ⟶Präfigurationen. Ein Held oder eine Heldin tritt nicht plötzlich aus dem Nichts auf die Bildfläche. Heroische Figuren erschließen sich nicht allein aus einer synchronen Perspektive und ihre Verehrung und Repräsentation kommt nicht ohne Vorbilder aus.

Diese diachronen Bezüge zwischen Vergangenem, Gegenwärtigem und Zukünftigem sind, drittens, nicht als lineare Abfolge oder gar mithilfe teleologischer Entwicklungsmodelle zu verstehen. Auch die Vorstellung zeitlicher Diskontinuitäten ist für ein Verständnis heroischer Phänomene nur begrenzt hilfreich. Das Heroische ist weniger durch Brüche und plötzliche Neuausrichtungen gekennzeichnet als vielmehr durch eine besondere Kombinatorik älterer und jüngerer Bedeutungselemente, in der Früheres und Späteres jeweils neu in Beziehung gesetzt wird. Vor allem die Wechselwirkungen zwischen Prä- und Postfigurationen sowie die Pluralität und Vielschichtigkeit verschiedener sich überlagernder Zeitbezüge ist charakteristisch für heroische Phänomene.

Ein Ergebnis der Arbeit im Sonderforschungsbereichs 948 „Helden – Heroisierungen – Heroismen“ ist daher, dass sich die Zeitstrukturen des Heroischen nicht – wie anfangs angenommen – als Konjunkturen oder Transformationen bestimmter Heldenfiguren beschreiben lassen. Als nützlich erwiesen sich stattdessen nicht-lineare Konzepte wie die longue durée im Sinne Fernand Braudels, das Zeitschichten-Modell nach Reinhard Koselleck oder der Präfigurationsbegriff im Anschluss an Hans Blumenberg. Sie unterlaufen die naive Vorstellung einer einfachen zeitlichen Sukzession oder Teleologie und eignen sich in besonderem Maße dafür, die Zeitstruktur des Heroischen als ein komplexes, interdependentes Neben- und Übereinander zu fassen. Ihre volle Beschreibungs- und Erklärungskraft entfalten diese Modelle jedoch erst in Kombination: Sie ermöglichen es, das Heroische einerseits als ein Phänomen von langfristiger Persistenz zu begreifen, andererseits die reziproken Dynamiken innerhalb dieser longue durée als Überlagerung, Amalgamierung und Hybridisierung von Bedeutungselementen verschiedener Zeitschichten zu erklären.

Dieses Instrumentarium zur Temporalisierung des Heroischen wird im Folgenden skizziert. Im Sinne einer transparenten Ergebnissicherung werden auch die anfangs vom SFB 948 genutzten Modelle der Konjunkturen und Transformationen zusammengefasst. Auch wenn einige der vorgestellten Modelle auf historiographische Konzepte zurückgehen, sollen sie hier nicht für eine Historisierung des Heroischen genutzt werden, d. h. für die Erklärung der tatsächlichen geschichtlichen Prozesse sowie der sozialen, kulturellen, räumlichen und zeitlichen Kontexte, in denen sich Heroisierungsprozesse ereignen. Ebenso wenig dienen sie einer narratologischen Beschreibung der zeitlichen Strukturen, die in ⟶heroischen Erzählungen und anderen Medien anzutreffen sind. Vielmehr können sie das Verhältnis zwischen dem Heroischen und dem Phänomen der Zeit per se erhellen und jene temporalen Strukturen modellieren, die jenseits konkreter historischer Gegebenheiten, Periodisierungen oder Narrative charakteristisch für Heroisierungen und Heroismen sind.

2. longue durée

Trotz gegenläufiger Tendenzen und Kritik steht die Existenz des Heroischen ebenso wie diejenige von Heroismen als Verhaltensidealen seit der Antike zumindest bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts in Europa und den kulturell eng verbundenen Erfahrungsräumen offenbar nie grundsätzlich infrage. Es handelt sich also um ein persistentes Phänomen der longue durée im Sinne Fernand Braudels. Als longue durée-Phänomene benennt er solche Phänomene, die langfristig in ihrer Substanz oder zumindest als Begriffe nicht grundsätzlich angerührt werden, meint damit aber durchaus nicht nur naturräumliche Gegebenheiten, sondern auch bestimmte politische Strukturen oder Ähnliches.1Braudel, Fernand: Das Mittelmeer und die mediterrane Welt in der Epoche Philipps II. 3 Bände. Frankfurt a. M. 1990: Suhrkamp [franz. Original Paris 1949]; bes. Band 1: 518; Band 2: 15, 739-740; Band 3: 13-15, 453-460; vgl. Braudel, Fernand: „Geschichte und Sozialwissenschaften. Die longue durée“. In: Honegger, Claudia (Hg.): Schrift und Materie der Geschichte. Vorschläge zur systematischen Aneignung historischer Prozesse. Frankfurt 1977: Suhrkamp, 47-85 [franz. Original in: Annales E. S. C. 13 (1958), 725-753]. Untersucht man das Heroische als ein longue durée-Phänomen, spielen die bei Braudel auf einer zweiten Ebene (der ‚moyenne durée‘) wichtigen Konjunkturen eine entscheidende Rolle (s. u.). An den Grenzen zwischen diesen Konjunkturen liegen Umbruchzeiten, die verbunden sind mit medialen, sozialen, politischen, unter Umständen auch technologischen, mentalen oder erfahrungsgeprägten Veränderungen. Sie spielen sich bei Braudel auf einer dritten Ebene ab, zu der auch punktuelle, kurzfristige Ereignisse (‚histoire événementielle‘) zählen.

3. Konjunkturen

Mit ‚Konjunkturen‘ des Heroischen können in Generationszeiträumen oder Epochen sich vollziehende Verdichtungen des Heroischen bezeichnet werden – in Absetzung von punktuellen, kurzfristigen Ereignissen auf der einen und den relativ beständigen, langfristigen Strukturen der longue durée auf der anderen Seite. Damit ist in bestimmten Zeit- und Erfahrungsräumen der sich verändernde Grad der Relevanz des Heroischen an sich ebenso gemeint wie die Existenz bestimmter, wiederholt auftretender Heroismen und heroischer Modelle wie beispielsweise des Kriegshelden oder des ⟶Heldentodes, physischer oder intellektueller Heldenhaftigkeit, der imitatio heroica aber auch ihrer Ablehnung oder Ironisierung (⟶Deheroisierung), im Sinne von ‚Hoch-‚ bzw. ‚Niedrigkonjunkturen‘. Die Beschreibung von Konjunkturen versucht zudem die historische Dynamik der Relationalität und Konkurrenz alternativer oder konkurrierender Modelle als Movens für die Etablierung neuer oder die Verwerfung alter heroischer Modelle auf synchroner, und zugleich die historische Dynamik von Wiederholungsstrukturen heroischer Figurationen auf diachroner Ebene zu erklären. Da der Begriff der Konjunktur jedoch eine mehr oder weniger lineare, unidirektionale Entwicklung impliziert, stößt er bei der Beschreibung historischer Phänomene, die von vielschichtigen Referenzen und Wechselwirkungen geprägt sind, schnell an seine Grenzen.

4. Transformationen

Auch heroische Figuren und Habitusmuster selbst wandeln sich. Diese Prozesse können als ‚Transformationen‘ beschrieben werden. Damit ist nicht die schlichte Veränderung im Laufe der Zeit gemeint, also keine Geschichte von Helden als Geschichte der Weitergabe und Rezeptionen – geschweige denn der ‚Nachwirkungen‘ und ‚Einflüsse‘ – einzelner Figuren/Typen. Vielmehr spielen sich Transformationen (im Sinne des vom SFB 644 ‚Transformationen der Antike‘ entwickelten Transformationsbegriffs) als bipolare, wechselseitige Prozesse zwischen einem Referenz- und einem durch Akteure gestalteten Aufnahmebereich ab.2Der von 2005 bis 2016 bestehende Sonderforschungsbereich 644 „Transformationen der Antike“ legte seiner Arbeit einen Transformationsbegriff zugrunde, den er folgendermaßen definierte: „Transformationen sind als komplexe Wandlungsprozesse zu verstehen, die sich zwischen einem Referenz- und einem Aufnahmebereich vollziehen. Aus dem Referenzbereich wird durch einen (nicht notwendig personal zu verstehenden) Agenten ein Aspekt ausgewählt, wobei im Akt der Aneignung nicht nur die Aufnahmekultur modifiziert, sondern insbesondere auch die Referenzkultur konstruiert wird. Diese enge Beziehung von Modifikation und Konstruktion ist wesentliches Merkmal transformatorischer Prozesse, die sowohl diachron als auch synchron verlaufen können. Sie führen mithin zu ‚Neuem‘ im doppelten Sinn, nämlich zu voneinander abhängigen Neufigurationen sowohl innerhalb der Referenz- wie innerhalb der Aufnahmekultur. Dieses Verhältnis der Wechselwirkung wird im Folgenden mit dem Begriff Allelopoiese, abgeleitet aus griech. allelon (gegenseitig) und poiesis (Herstellung, Erzeugung), bezeichnet.“ – Bergemann, Lutz et al.: „Transformation. Ein Konzept zur Erforschung kulturellen Wandels“. In: Böhme, Hartmut et al. (Hg.): Transformation. Ein Konzept zur Erforschung kulturellen Wandels. München 2011: Fink, 39-56, 39; vgl. auch Böhme, Hartmut / Rapp, Christof / Rösler, Wolfgang (Hg.): Übersetzung und Transformation. Berlin 2007: de Gruyter, VII-IX. Gegenstand der Transformationen im Referenzbereich ist ein flexibles Repertoire bisweilen seit der Antike etablierter, traditionaler heroischer Figuren, Modelle und Imaginationen. Diese werden in Prozessen der Aneignung im Aufnahmebereich bestimmter sozialer, politischer und kultureller Kontexte und motiviert durch die Bedürfnisse ihrer Akteure neu konstruiert, personal figuriert und medial formiert, d. h. mit neuen Bedeutungen versehen oder sogar gänzlich neu erfunden: Transformationen „führen mithin zu ‚Neuem‘ im doppelten Sinn, nämlich zu voneinander abhängigen Neufigurationen sowohl innerhalb der Referenz- wie innerhalb der Aufnahmekultur“.3Bergemann et al.: „Transformation“, 2011, 39. Relevant sind diese wechselseitigen Transformationen von Figurationen und Darstellungsformen des Heroischen als Grundelemente einer komparativen Untersuchung und als Faktoren einer diachronen historischen Dynamik. Dabei wird der Blick nicht nur auf Bedeutungen heroischer Figuren in ihrem Kontext gerichtet, sondern besonders auf heroische Verhaltensmuster im Rahmen von Heroismen. Dies schließt die Frage nach dem Grad und der Relevanz der Vieldeutigkeit gerade von personalen Figurationen wie Held(inn)en ein.

5. Zeitschichten

Ein zentrales Ergebnis der Erforschung von Heroisierungsprozessen ist die Erkenntnis, dass diese mit Vorstellungen von ‚Aufstieg‘ und ‚Niedergang‘, eines ‚Früher‘ und ‚Später‘ nicht ausreichend erklärt werden können. Eine Beschreibung von Transformationen als linearen Prozessen kann nur Teile des Phänomens erfassen, weil sich in den Transformationen des Heroischen in der longue durée ältere und jüngere Bedeutungselemente überlagern. Deshalb soll im Folgenden ein komplexeres Temporalisierungsmodell von ‚Zeitschichten‘ und Sedimentierungen skizziert werden, das als eine Weiterentwicklung des einfacheren Modells der Transformationen und Konjunkturen in der longue durée verstanden werden kann. Es basiert auf Reinhart Kosellecks Konzept der ‚Zeitschichten‘, das ursprünglich für das Verständnis von Geschichtsnarrationen entwickelt wurde und für das Phänomen des Heroischen adaptiert werden kann.4Vgl. Koselleck, Reinhart: „Geschichte, Geschichten und formale Zeitstrukturen“. In: Koselleck, Reinhart: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt a. M. 1989 [1973]: Suhrkamp, 130-143, 130-135; Koselleck, Reinhart: „Zeitschichten“. In: Koselleck, Reinhart: Zeitschichten. Studien zur Historik. Frankfurt a. M. 2000 [1995]: Suhrkamp, 19-26, 19-23.

Heroisierungsprozesse, die Zuschreibung heroischer Qualitäten und die Auseinandersetzungen um Akzeptanz oder gar Notwendigkeit heroischer Vorbilder für eine Gruppe, Gemeinschaft oder Gesellschaft sind weniger durch Brüche und plötzliche Neuausrichtungen gekennzeichnet als vielmehr durch eine besondere Kombinatorik älterer und jüngerer Bedeutungselemente, in der historisch Früheres und Späteres jeweils neu miteinander kombiniert und so in Beziehung gesetzt wird. Besonders in historischen Umbruchphasen gelangen Erzählmuster, Figureneigenschaften oder Darstellungskonventionen aus lange zurückliegenden Epochen wieder an die Oberfläche und werden mit gerade emergierenden kombiniert. Das erklärt die zahlreichen Überlagerungen, Amalgamierungen und Hybridisierungen von Bedeutungselementen, die bei der Untersuchung von Heroisierungen und heroischen Figuren zutage treten.

Überträgt man diese Beobachtung einer Kombinatorik auf die theoretisch-konzeptionelle Ebene der Temporalisierung, so ergibt sich für viele Heroisierungsprozesse eine charakteristische chronologische Gleichzeitigkeit des historisch ungleichzeitig Erscheinenden.5Vgl. Leonhard, Jörn: „Historik der Ungleichzeitigkeit. Zur Temporalisierung politischer Erfahrung im Europa des 19. Jahrhunderts“. In: Journal of Modern European History 7.2 (2009), 145-168; Landwehr, Achim: „Von der ‚Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen‘“. In: Historische Zeitschrift 295.1 (2012), 1-34. Das zeigt sich bspw., wenn in der Heroisierung von ⟶Soldaten des Ersten Weltkriegs antike Bezüge des Wettkampfs, der Agonalität, der mittelalterlichen Ritterbilder und des ⟶Duells neben der Heroisierung industrialisierter Kriegsarbeit standen. Ähnliche Gleichzeitigkeiten sind in medialen und künstlerischen Heroisierungspraktiken evident, so im Hinblick auf die Aneignung älterer Darstellungstraditionen in späteren Epochen wie z. B. beim Rückgriff auf das Epos im englischen heroic play des 17. Jahrhunderts. Diese Kombinationen setzen ein Deutungswissen der jeweiligen Publika und ihre Vertrautheit mit Darstellungstraditionen voraus, können aber auch neue Kanonisierungen von Heldenkonzepten anzeigen. Ohne solche Wissensspeicher ließen sich die Held(inn)en nicht glaubwürdig kommunizieren. Solche Konstellationen lassen sich nicht durch den Verweis auf Rhythmen und Konjunkturen oder einfache Sukzessionen erklären. Eher handelt es sich um sich überlagernde ‚Zeitschichten‘, in denen im Späteren das Frühere stets erkennbar und abrufbar bleibt. Die Metapher der ‚Zeitschicht‘ verweist auf sedimentierte geologische Formationen, die „verschieden weit und verschieden tief zurückreichen und die sich im Laufe der sogenannten Erdgeschichte mit verschiedenen Geschwindigkeiten verändert und voneinander abgehoben haben“.6Koselleck: „Zeitschichten“, 2000 [1995], 19. Historische Zeiten sind in diesem Sinne weniger als diachrone Abfolge zu verstehen, sondern als ein Phänomen der Mehrschichtigkeit, der polyvalenten Semantiken und der Gleichzeitigkeit von historisch ungleichzeitig erscheinenden Bedeutungsebenen. Aus dieser Perspektive markiert ein solcher Ansatz auch ein analytisches Gegengewicht zu gängigen Epochengliederungen und Meistererzählungen.

Wendet man diese Überlegung auf Heroisierungen an, dann wird die besondere Spannung zwischen der Einmaligkeit des Ereignisses, der Idee des Fortschritts als lineare Verknüpfung einmaliger Ereignisse einerseits und der Wiederholung und Wiedererkennbarkeit durch strukturelle Analogien andererseits sichtbar. So wie das Sprechen auf die Wiedererkennbarkeit von Lexik und Grammatiken in der Sprache zurückverweist, so setzt die je spezifische Heroisierung, ihre historische Einmaligkeit, ein Minimum an Rekurrenz und Analogiebildung voraus, um überhaupt verstanden und vermittelt werden zu können.

Die Relevanz des Zeitschichten-Modells liegt in seiner Beschreibungskraft für die nichtlinearen, gleichwohl immer auch traditionsorientierten Strukturen von Heroisierungsprozessen und Heroismen. Der Rückgriff auf ältere Bedeutungselemente bindet, so lässt sich als These formulieren, Heroisierungen in besonderer Intensität an das kollektive Imaginaire zurück und verleiht ihnen dadurch zusätzliches semantisches Gewicht: Heroisierungen überspielen so zeitliche Distanz und postulieren Kontinuität. Diese Persistenz über lange Zeiträume hinweg zeichnet sie gegenüber anderen kulturellen Deutungsmustern aus. In der Kombination und gleichzeitig oft auch Aktualisierung unterschiedlicher Figuren und Geschichten machen sich nicht zuletzt konkurrierende Deutungsansprüche geltend: Der historische und/oder mythologische Heldenfundus ist groß genug, dass unterschiedliche Gruppen darin jeweils für sie passende, in der Summe häufig gegensätzliche Vorbilder finden können.

6. Präfigurationen

Hermeneutisch ist der Ansatz der ‚Zeitschichten‘ mit dem von Hans Blumenberg entwickelten Begriff der ⟶‚Präfiguration‘ zu verbinden7Blumenberg, Hans: Präfiguration. Arbeit am politischen Mythos. Berlin 2014., welcher die Relevanz des Zeitschichten-Modells für das Heroische besser erkennen lässt. Mit dem Begriff der ‚Präfiguration‘ verweist Blumenberg auf die Eigenmächtigkeit eines bestimmten historischen Vorrats an Bedeutungen, auf die in einer bestimmten Situation zurückgegriffen wird. Der Bezug auf einen bestimmten Präfiguranten kann dabei zu einem „singuläre[n] Instrument der Rechtfertigung in schwach begründeten Handlungssituationen“ werden. Der u. U. nahezu zwanghafte Akt der Wiederholung des Präfiguranten – etwa eines überlieferten heroischen Narrativs – kann dabei für die Handelnden eine intensivierte affizierende, magisch erscheinende Wirkung entfalten, weil sich mit der Wiederholung „die Erwartung der Herstellung eines identischen Effekts“ verbindet.8Blumenberg: Präfiguration, 2014, 9. Blumenberg denkt Präfigurationen jedoch nicht als unidirektionale, sondern als reziproke Prozesse: Auch der Präfigurant als Ausgangsfigur erhält erst im Prozess der Präfiguration seine Bedeutung.9Vgl. Blumenberg: Präfiguration, 2014, 11. Er existiert nicht als feste und umfänglich unveränderliche Größe, sondern erfährt in seiner angeblichen Imitation selbst erst Gestaltung und Bedeutungszuschreibung. Auch die Ausgangsfigur wird so durch jede Imitation transformiert.


Präfigurationen erklären den Aufforderungscharakter sowie das Identifikations-, Mobilisierungs- und Nachahmungspotenzial, das von im ⟶kollektiven Gedächtnis abrufbaren und als signifikant postulierten Vergangenheiten ausgeht. Sie sind Teile von Wiederholungsstrukturen, unterstellen der Gegenwart etwas angeblich schon einmal Dagewesenes, reduzieren dadurch die Komplexität der zu treffenden Entscheidungen, verschaffen diesen Legitimation und machen den Handelnden zum Vollstrecker eines geschichtlichen Auftrags – sie ändern aber auch die Bewertung des angeblich imitierten Vergangenen.

7. Forschungsperspektiven

Für ein vertieftes Verständnis der Zeitstrukturen des Heroischen sowie geeigneter Beschreibungsmodelle können folgende Fragen instruktiv sein:

  • In welchem Verhältnis stehen historiographische Periodisierungen des Heroischen (etwa die Einteilung bestimmter Epochen) zu Überlagerungen verschiedener Zeitschichten?
  • Welche Rollen spielen Latenzen im Sinne stark zurückgedrängter Zeitschichten? Wie lassen sich verschiedene Grade der Manifestation von Zeitschichten fassen?
  • Markiert die Überlagerung von Zeitschichten in der longue durée eine Form der Temporalität, die nur für das Heroische typisch und spezifisch ist? Welche anderen kulturellen und sozialen Phänomene weisen ähnliche Zeitstrukturen auf, die eine Übertragung der hier vorgeschlagenen Modelle erlaubt?

8. Einzelnachweise

  • 1
    Braudel, Fernand: Das Mittelmeer und die mediterrane Welt in der Epoche Philipps II. 3 Bände. Frankfurt a. M. 1990: Suhrkamp [franz. Original Paris 1949]; bes. Band 1: 518; Band 2: 15, 739-740; Band 3: 13-15, 453-460; vgl. Braudel, Fernand: „Geschichte und Sozialwissenschaften. Die longue durée“. In: Honegger, Claudia (Hg.): Schrift und Materie der Geschichte. Vorschläge zur systematischen Aneignung historischer Prozesse. Frankfurt 1977: Suhrkamp, 47-85 [franz. Original in: Annales E. S. C. 13 (1958), 725-753].
  • 2
    Der von 2005 bis 2016 bestehende Sonderforschungsbereich 644 „Transformationen der Antike“ legte seiner Arbeit einen Transformationsbegriff zugrunde, den er folgendermaßen definierte: „Transformationen sind als komplexe Wandlungsprozesse zu verstehen, die sich zwischen einem Referenz- und einem Aufnahmebereich vollziehen. Aus dem Referenzbereich wird durch einen (nicht notwendig personal zu verstehenden) Agenten ein Aspekt ausgewählt, wobei im Akt der Aneignung nicht nur die Aufnahmekultur modifiziert, sondern insbesondere auch die Referenzkultur konstruiert wird. Diese enge Beziehung von Modifikation und Konstruktion ist wesentliches Merkmal transformatorischer Prozesse, die sowohl diachron als auch synchron verlaufen können. Sie führen mithin zu ‚Neuem‘ im doppelten Sinn, nämlich zu voneinander abhängigen Neufigurationen sowohl innerhalb der Referenz- wie innerhalb der Aufnahmekultur. Dieses Verhältnis der Wechselwirkung wird im Folgenden mit dem Begriff Allelopoiese, abgeleitet aus griech. allelon (gegenseitig) und poiesis (Herstellung, Erzeugung), bezeichnet.“ – Bergemann, Lutz et al.: „Transformation. Ein Konzept zur Erforschung kulturellen Wandels“. In: Böhme, Hartmut et al. (Hg.): Transformation. Ein Konzept zur Erforschung kulturellen Wandels. München 2011: Fink, 39-56, 39; vgl. auch Böhme, Hartmut / Rapp, Christof / Rösler, Wolfgang (Hg.): Übersetzung und Transformation. Berlin 2007: de Gruyter, VII-IX.
  • 3
    Bergemann et al.: „Transformation“, 2011, 39.
  • 4
    Vgl. Koselleck, Reinhart: „Geschichte, Geschichten und formale Zeitstrukturen“. In: Koselleck, Reinhart: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt a. M. 1989 [1973]: Suhrkamp, 130-143, 130-135; Koselleck, Reinhart: „Zeitschichten“. In: Koselleck, Reinhart: Zeitschichten. Studien zur Historik. Frankfurt a. M. 2000 [1995]: Suhrkamp, 19-26, 19-23.
  • 5
    Vgl. Leonhard, Jörn: „Historik der Ungleichzeitigkeit. Zur Temporalisierung politischer Erfahrung im Europa des 19. Jahrhunderts“. In: Journal of Modern European History 7.2 (2009), 145-168; Landwehr, Achim: „Von der ‚Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen‘“. In: Historische Zeitschrift 295.1 (2012), 1-34.
  • 6
    Koselleck: „Zeitschichten“, 2000 [1995], 19.
  • 7
    Blumenberg, Hans: Präfiguration. Arbeit am politischen Mythos. Berlin 2014.
  • 8
    Blumenberg: Präfiguration, 2014, 9.
  • 9
    Vgl. Blumenberg: Präfiguration, 2014, 11.

9. Ausgewählte Literatur

  • Bergemann, Lutz et al.: „Transformation. Ein Konzept zur Erforschung kulturellen Wandels“. In: Böhme, Hartmut et al. (Hg.): Transformation. Ein Konzept zur Erforschung kulturellen Wandels. München 2011: Fink, 39-56. (Englisch: Bergemann, Lutz et al.: „Transformation. A Concept for the Study of Cultural Change“. In: Baker, Patrick / Helmrath, Johannes / Kallendorf, Craig (Hg.): Beyond Reception. Renaissance Humanism and the Transformation of Classical Antiquity. Berlin / Boston 2019: de Gruyter, 9-25.)
  • Blumenberg, Hans: Präfiguration. Arbeit am politischen Mythos. Berlin 2014.
  • Böhme, Hartmut / Rapp, Christof / Rösler, Wolfgang (Hg.): Übersetzung und Transformation. Berlin 2007: de Gruyter.
  • Braudel, Fernand: Das Mittelmeer und die mediterrane Welt in der Epoche Philipps II. 3 Bände. Frankfurt a. M. 1990: Suhrkamp. [Franz. Original Paris 1949.]
  • Braudel, Fernand: „Geschichte und Sozialwissenschaften. Die longue durée“. In: Honegger, Claudia (Hg.): Schrift und Materie der Geschichte. Vorschläge zur systematischen Aneignung historischer Prozesse. Frankfurt 1977: Suhrkamp, 47-85. [Franz. Original in: Annales E. S. C. 13 (1958), 725-753.]
  • Bröckling, Ulrich: Postheroische Helden. Ein Zeitbild. Berlin 2020: Suhrkamp, bes. 72-75.
  • Koselleck, Reinhart: „Geschichte, Geschichten und formale Zeitstrukturen“. In: Koselleck, Reinhart: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt a. M. 1989 [1973]: Suhrkamp, 130-143.
  • Koselleck, Reinhart: „Zur historisch-politischen Semantik asymmetrischer Gegenbegriffe“. In: Koselleck, Reinhart: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt a. M. 1992: Suhrkamp, 211-259.
  • Koselleck, Reinhart: „Zeitschichten“. In: Koselleck, Reinhart: Zeitschichten. Studien zur Historik. Frankfurt a. M. 2000 [1995]: Suhrkamp, 19-26.
  • Landwehr, Achim: „Von der ‚Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen‘“. In: Historische Zeitschrift 295.1 (2012), 1-34.
  • Leonhard, Jörn: „Historik der Ungleichzeitigkeit. Zur Temporalisierung politischer Erfahrung im Europa des 19. Jahrhunderts“. In: Journal of Modern European History 7.2 (2009), 145-168.

Zitierweise

Sonderforschungsbereich 948: Zeitstrukturen des Heroischen. In: Compendium heroicum. Hg. von Ronald G. Asch, Achim Aurnhammer, Georg Feitscher und Anna Schreurs-Morét, publiziert vom Sonderforschungsbereich 948 „Helden – Heroisierungen – Heroismen“ der Universität Freiburg, Freiburg 18.01.2021. DOI: 10.6094/heroicum/zshd1.0.20210118